tag:blogger.com,1999:blog-2351108604976481852024-03-13T03:15:53.669+01:00Wertkritische BeiträgeCh. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.comBlogger6125tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-17099180655611864322012-04-05T20:16:00.000+02:002012-04-05T20:16:03.425+02:00Wir sind die Krise<div style="text-align: justify;">
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<b>Wir sind die Krise</b></h3>
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Einführungsvortrag über die wertkritische Krisentheorie (27.3.2012, Veto Erfurt)</h4>
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<i>von Christian Höner</i></div>
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Über Bedingungen und Bedeutung krisentheoretischer Überlegungen</h4>
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1991, ein Jahr nachdem der Kapitalismus aus dem Kampf der Systeme als Sieger hervor- und der real-existierende Sozialismus unterging, erschien im Eichborn-Verlag ein Buch mit dem Titel „Der Kollaps der Modernisierung“. Darin wartete dessen Autor Robert Kurz mit der steilen und damals anachronistisch-wirkenden These auf, der Zusammenbruch des Sozialismus sei nur das Wetterleuchten einer viel grundlegenderen Krise, nämlich einer genuinen Krise der Weltökonomie bzw. des warenproduzierenden Systems. <br />Grundlage dieser Einschätzung war ein neuer theoretischer Zugang, mit dem versucht werden sollte, die stumpf-gewordenen Paradigmen traditioneller Kapitalismuskritik zu überwinden. Nicht mehr die Klassen- und Verteilungsfrage der alten Arbeiterbewegung wurde in das Zentrum der Analyse und Kritik gestellt, die im Kern nur auf eine gerechte Verteilung des produzierten Mehrwerts abzielte; vielmehr fokussierte sich die Kritik nun grundsätzlicher auf die gesellschaftliche Produktions- und Vermittlungsformen des Werts und der abstrakten Arbeit. Vor diesem theoretischen Hintergrund erschien der Sozialismus nicht als die große Systemalternative, sondern vielmehr als eine Alternation, eine staatskapitalistische Spielart des warenproduzierenden Gesamtsystems. <br />Wurde die Wertkritik in den folgenden Jahrzehnten innerhalb der Linken in bestimmten Versatzstücken aufgegriffen, diskutiert und kritisiert, so blieb doch deren These von einer finalen Krise des Systems der obskuranteste und seltsamste Aspekt des wertkritischen Theorieuniversums, mit dem sich kaum jemand anzufreunden vermochte. Die Palette der Abwehr einer Fundamentalkrise reichte dabei vom bloßen Abschneiden der Krisentheorie vom restlichen, „ernstzunehmenden“ Theoriebestand der Wertkritik bis hin zur Denunzierung als bloßes Apokalypse- und Weltuntergangsgequatsche. Selbst der Wertkritik nahestehende Positionen konnten oder wollten mit der Krisentheorie nichts anfangen und stimmten in den Chor der Finale-Krise-Leugner ein. Unter dem Titel „Neues vom Weltuntergang“<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote1sym">1</a> höhnte im Jahr 2000 Michael Heinrich<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote2sym">2</a> inhaltlich noch am anspruchsvollsten gegen die wertkritische Krisentheorie. Eine Fundamentalkrise ließe sich im Anschluss an Marx nicht konsistent begründen, so Heinrichs Kritik. Die Rede von Krise mache nur dann Sinn, wenn der Kapitalismus jenseits seiner historischen Daseinsweise als permanente Krise begriffen werde (ähnliches äußerte auch der antideutsche Theoretiker Stefan Grigat). Kapitalismus bedeutet demnach immer Krise, weil die allumfassende Konkurrenz stets Gewinner und Verlierer produziert. Ständig spuckt der Markt nach kapitalistischen Kriterien unproduktive und überflüssige Marktteilnehmer aus, sei es nun der Brötchenbäcker von nebenan, ein Autokonzern oder eine ganze Nationalökonomie. Solche Überflüssigmachungen können durchaus zu Krisen kulminieren, allein sie gefährden das Gesamtsystem nicht. Der Grund hierfür ist, dass Krisen nicht nur den Untergang bestimmter Marktteilnehmer hervorrufen, sondern gleichzeitig die Voraussetzung für einen neuen Akkumulationszyklus des Kapitals schaffen. Der bürgerliche Nationalökonom Josef Schumpeter nannte diese Potential des Kapitals, durch Krisen wie Phönix aus der Asche auferstehen zu können, schöpferische Zerstörung. Sah Schumpeter darin jedoch durchaus eine Dynamik angelegt, die das Überleben des Kapitalismus gefährdet, so erblicken viele Linke – ähnlich wie Heinrich - im ewig gleichen Krisenprozess des Kapitals auch dessen Jungbrunnen.<br />Die Überzeugung, dass der Kapitalismus ums Verrecken nicht an sich selbst scheitern kann, dürfte wohl die Ohnmachtsgefühle eines Großteils der Linken spiegeln, welche sich aus der realen historischen Erfahrung speisen, dass das kapitalistische System trotz schwerster Krisen fortbesteht.<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote3sym">3</a> Über diese historische Erfahrung hinaus stand in den 1990er Jahren einer ernsthaften Befassung mit der fundamentalen Krisentheorie der Wertkritik die empirischen Lebenswirklichkeiten vieler Linker hierzulande im Wege, die geprägt war von der kasinokapitalistischen Boomphase – auch wenn sich es dabei freilich um eine Binnenperspektive aus den Gewinnerzonen des Weltmarktes handelte. Aus dieser Perspektive jedenfalls konnten die diversen Staatsbankrotte und geplatzten Finanzblasen – auch wenn die Krisen-Einschläge zeitlich dichter und topografisch näher kamen – noch unter dem Stichwort »Bereinigungskrisen« abgetan werden. Doch mit dem Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase im Jahre 2007 ändert sich das Wahrnehmungsszenario. Im Staccato wechselten nun die Krisenszenarien und verdichteten sich zu einem Zustand permanenter Krise: An die Immobilienkrise schloss sich nahtlos die Finanzmarktkrise 2008 an, die sich in eine Staatsschulden-Krise transformierte und sich nun am Horizont als Geldkrise andeutet. Wenn bereits die Spatzen des bürgerlichen Journalismus von Tagesschau bis FAZ die Systemkrise von den Dächern pfeifen, dann scheint auch in der Linken das bisher Undenkbare einer hausgemachten Systemkrise zumindest als diskutable Möglichkeit. <br />Dabei ist die zu diskutierende Frage, wie das aktuelle Krisenszenario theoretisch zu bestimmen sei, keine bloß akademische. Auch geht es nicht um eine bloß haarspalterische Besserwisserei linker Theorieteiche (auch wenn Theorieakteure diesen Eindruck mitunter vermitteln). Die Frage der Kriseninterpretation berührt nämlich nicht nur das grundlegende Verständnis des Kapitalismus als solchen, sondern auch die Frage, was Emanzipation heute noch heißen kann und in welchem programmatischen Horizont sie zu verorten ist. So sieht das Gros der Bewegungslinken als auch der Protestbewegungen Emanzipationsspielräume innerhalb des kapitalistischen Formzusammenhangs gegeben, auf die sich die Anstrengungen konzentrieren. Wenn Occupy, Attac und Sahra Wagenknecht für eine Regulierung der Finanzmärkte und eine gerechte Verteilung des abstrakten Reichtums eintreten, dann setzt dies natürlich voraus, dass die Gesellschaftsmaschine, die den abstrakten Reichtum produziert, aus sich heraus munter weiterläuft. Die reale Vitalität des Kapitals ist die notwendige Voraussetzung aller sozialdemokratischer Regulations- und Emanzipationsvorstellungen. Solange das Kapital unbeirrt vor sich hin akkumuliert, wird es eine radikale Kapitalismuskritik schwer haben, wenn sie mit dem Kapitalismus brechen will und hierfür bloß moralische Argumente und lebensphilosophische Haltungen liefern kann. Sollte sich hingegen die wertkritische Behauptung bewahrheiten, dass das Kapital an den eigenen Widersprüchen zugrunde geht, dann wäre die Frage einer Emanzipationsperspektive nicht mehr innerhalb des kapitalistischen Formzusammenhangs aufweisbar, sondern nur noch jenseits dieser Form. <br />Um einem in diesen Zusammenhang häufig auftauchenden Missverständnis gleich entgegenzutreten: Die Behauptung, das Kapitalverhältnis ginge an sich selbst zugrunde, impliziert nicht, dass sich die Sache von selbst erledigt. Die Selbstzerstörung des Kapitals ist nämlich nicht identisch mit Emanzipation. Da die gesellschaftliche Vermittlung der stofflichen Reproduktion der Individuen sich allein in den Darstellungsformen des Kapitals (Arbeit, Ware, Geld) realisiert, droht mit dem Untergang des Kapital eben auch diese Reproduktion unterzugehen. Das Problem dabei ist, dass es derzeit keine anderen Formen gesellschaftlicher Vermittlung gibt, die jenseits von Ware-Geld-Beziehungen in der Lage wären, die stoffliche Reproduktion zu meistern. Sie zu entwerfen, wäre – neben den Abwehrkämpfen mit den irre-werdenden Geistern des alten Systems - die große Herausforderung einer Emanzipationsbewegung. <br />Ich muss es bei diesen Andeutungen belassen, um die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass eine theoretische Auseinandersetzung um die Bestimmung von Kapitalismus und Krise notwendig und konsequenzenreich ist. Im Folgenden werde ich versuchen, die wertkritische Krisentheorie grob zu skizzieren.</div>
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Zur wertkritischen Krisentheorie</h4>
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Um den grundlegenden Krisenmechanismus des Kapitals skizzieren zu können, ist es notwendig, die theoretischen Voraussetzungen und Grundbestimmungen offenzulegen, mit denen die Wertkritik – selbstredend im Anschluss an Marx – das Kapital zu bestimmen versucht.<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote4sym">4</a> Unter Kapital wird dabei nicht – wie in vulgärmarxistischer Manier - eine Klasse von Privateigentümern an Produktionsmitteln verstanden, sondern der selbstzweckhafte Prozess der Wertverwertung, d.h. ein Prozess, bei dem es darum geht, aus Geld mehr Geld zu machen über den Umweg der Warenproduktion. Die Ergebnisse dieses Prozesses stellen sich in zwei unterschiedlichen Reichtumsformen dar, wobei das Geld die abstrakte Reichtumsform repräsentiert, während die Ware gemeinhin als stoffliche Reichtumsform angesehen wird. Die Marx'sche Analyse der Ware offenbart jedoch, dass bereits in der Ware selbst beide Reichtumsformen angelegt sind: Die Ware ist einerseits als konkret-sinnlicher Gegenstand zu fassen, der ein konkret-sinnliches Bedürfnis befriedigen kann. Andererseits ist die Ware Trägerin eines abstrakten Werts, der ausdrückt, dass diese Ware in einem bestimmten, rein quantitativen Verhältnis gegen eine andere Ware (oder gegen Geld) getauscht werden kann. Der in der Ware angelegte Widerspruch, einerseits als konkret-sinnliches Gebrauchsding zu existieren und andererseits als abstrakt-nichtsinnliches bzw. übersinnliches Wertding, bleibt jedoch nicht auf die Ware beschränkt, sondern durchzieht den Gesamtprozess der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion. Erscheint der widersprüchliche Charakter der Ware in der Analyse zunächst nur in einer vermeintlich harmlosen, weil bloß begrifflichen Form vorzuliegen, so entzündet und entfaltet er sich in dem Maße, wie die gesellschaftliche Reichtumsproduktion warenförmig durchdrungen ist. Es erweist sich dabei, dass beide Reichtumsformen (sinnlich-konkret vs. übersinnlich-abstrakt) nicht friedlich nebeneinander koexistieren, sondern real miteinander konfligieren. Dieser bereits im Doppelcharakter der Ware angelegte Konflikt zwischen der abstrakten Wertform und dem stofflichen Inhalt ist nun die Mutter aller Krisen. <br />Bevor im Folgende näher auf die Krisen einzugehen sein wird, sind zunächst einmal verschiedene Krisenformen voneinander zu unterscheiden. Denn Krise ist nicht gleich Krise. Zunächst einmal muss danach gefragt werden, in Bezug worauf überhaupt von einer Krise gesprochen werden kann. Ist der Prozess der Reichtumsproduktion selbst Gegenstand der Krise oder 'nur' sein soziales und ökologisches Umfeld? Was für die Menschen und für die Natur als Krise sich geltend macht, ist für das System meistens nichts anderes als der normale modus operandi, die normale Daseinsweise des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Die Vermeidung ökologischer Folgekosten der kapitalistischen Reichtumsproduktion ist genauso gewinnfördernd wie die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, ihre Verlegung in Billiglohnländer oder die Erhöhung des Intensitätsgrades der Arbeit<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote5sym">5</a>. <br />Der Grund für die Rücksichtslosigkeit der Ökonomie gegenüber sozialen und ökologischen Aspekten liegt dabei nicht in der subjektiven Gier von ungebildeten oder moralisch-mangelhaften Menschen und auch nicht in der Natur des Menschen, sondern in den Widersprüchen der Ökonomie selbst, die – wie bereits angedeutet – zwischen den beiden Reichtumsformen (konkret-stofflich versus abstrakt) besteht. Das Geld, welches nichts anderes als die Inkarnation bzw. Verkörperung der abstrakten Wertseite aller Waren darstellt, ist nämlich nicht – wie die VWL-Lehre propagiert – bloßes Schmiermittel des ökonomischen Prozesses, sondern es ist Ausgangs- und Endpunkt der Reichtumsproduktion. Marx hat dafür die berühmte Formel des Kapitals geprägt: Geld-Ware-mehr Geld (G-W-G'). Im Geld ist die abstrakte Wertseite der Ware zum eigentlichen Zweck der Produktion geworden, während die konkrete-sinnliche Seite der Ware nur noch als Mittel für den übergeordneten Zweck der abstrakten Wertverwertung fungiert. D.h., der Verwertungsprozess bzw. die abstrakte Reichtumsproduktion geniest aus systemischer Sicht den Vorrang gegenüber allen möglichen Aspekten einer konkreten Reichtumsproduktion. Alle konkret-sinnliche Aspekte, seien sie nun ökologischer oder sozialer Art, sind sekundär und im Zweifelsfall zu vernachlässigen. Der Selbstzweck der abstrakten Reichtumsproduktion und das bloße Mittel-Werden der konkreten Reichtumsproduktion ist also der im Betriebsmodus des Systems angelegte Hauptgrund sozialer und ökologischer Krisen. <br />„Selbstzweck der abstrakten Reichtumsproduktion“ meint hier aber nicht nur, dass sich die abstrakte Wertseite der Ware tendenziell autonom macht von der konkret-sinnlichen Seite der Ware, sondern auch das relative Autonom-Werden der abstrakten Reichtumsproduktion vom menschlichen Gestaltungswillen. Die politische Souveränität endet am Verwertungsimperativ, denn dieser liefert ihr wichtigstes Gestaltungs- und Existenzmedium: Das Geld. Die abstrakte Reichtumsproduktion hat sich gegenüber den Menschen als eine fremde Macht etabliert, deren stummen, systemischen Zwängen die Individuen unterworfen sind. Marx spricht deshalb auch vom Kapital als einem „Automatischen Subjekt“. <br />Die durch den Selbstzweck der abstrakten Reichtumsproduktion hervorgerufenen sozialen und ökologischen Krisen stellten in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus meistens keine ernstzunehmenden Krisen für das Kapital dar, da die Existenz des Systems als solches selten in seiner Totalität bedroht war. Aus systemischer Sicht ist es solange gleichgültig, ob Menschen am Hungertuch nagen oder irgendwelche Landstriche vergiftet oder verstrahlt sind, wie bestimmte allgemeine, stofflich-konkrete Rahmenbedingungen der Verwertung gegeben sind. Allein die Ware Arbeitskraft muss sich in ausreichendem Maße reproduzieren, wobei „ausreichend“ meint, dass die Ware Arbeitskraft nicht aussterben darf und ihre Leistungsfähigkeit einigermaßen konstant bleiben sollte. Hier gibt es natürlich aus der Perspektive der Gewinnerzonen jede Menge Spielraum nach unten...</div>
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Inwiefern kann von einer Krise des Kapitals also nun gesprochen werden?</h4>
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Das Kapital mag soziale Krisen für die Menschen produzieren, allein es spricht wenig dafür, dass diese Krisen zurückschlagen und in einer Krise des Kapitals selbst kulminieren. Von einer solchen Option ist Marx in seiner Verelendungstheorie tatsächlich noch ausgegangen. Demnach fusionieren die vom Verwertungsdiktat angetriebenen Einzelkapital zu immer größeren Einheiten und vereinen damit gleichsam immer größere Einheiten von Besitzern der Ware Arbeitskraft unter ihr Kommando. Gemeinsam unter dem Joch der Verwertung leidend, formiert sich ein besonderes gesellschaftliches Interesse an der Überwindung der abstrakten Reichtumsproduktion bis sich schließlich das Proletariat erhebt und die Produktion von der Herrschaft des Werts befreit. Soweit die Marx'sche Verelendungs- bzw. Revolutionstheorie. Dabei hat Marx offenkundig die identitätsstiftende Macht der Warenform und die Präformierung des durch die Kapitallogik hergestellten Interesses unterschätzt. Statt um Aufhebung der abstrakten Reichtumsproduktion ging es der Arbeiterbewegung viel eher um Teilhabe. Die gerechtere Verteilung des Mehrwerts war der Emanzipationshorizont der Arbeiterbewegung, nicht die Abschaffung der Wert-Produktion als solcher. So wurde die Kritik der abstrakten Reichtumsproduktion, wie sie bei Marx angelegt war, entweder als abstrakte Forderung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben oder gleich in Gänze ausgeblendet. So konstatiert die Wertkritik, dass das Kapital aus sich heraus zwar notwendig soziale Krisen produziert, dass diese aber mit Notwendigkeit zu einer Überwindung des Verhältnisses führen, davon kann keine Rede sein. <br />Es gebe natürlich eine gänzlich andere Form der sozialen Krise für das Kapital. Sie bestünde in der bewussten Abschaffung der abstrakten Reichtumsproduktion, d.h. der Aufhebung der Waren- und Geldlogik durch die bewusste Aneignung und naturalförmige Organisation der stofflichen Reichtumsproduktion. Diese stellt sich jedoch nicht in einem quasi-naturgesetzlichen Prozess her. Emanzipation ist kein Automatismus.<br />Schon anders stellt sich die Situation im Hinblick auf eine mögliche ökologische bzw. natürliche Schranke der Kapitalakkumulation dar. Im Wesen der abstrakten Reichtumsproduktion liegt nämlich nicht nur begründet, dass sie blind und strukturell rücksichtslos gegen soziale und ökologische Kriterien und Qualitäten ist; auch in quantitativer Hinsicht ist sie strukturell rücksichtslos, insofern sie kein Maß kennt. Anders als es die diversen Spielarten der Zinskritik behaupten (die derzeit Konjunktur feiern<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote6sym">6</a>), liegt bereits in der Formel des produktiven Kapitals (G-W-G') das ganze Geheimnis des systemischen Wachstumszwangs begründet – aus Geld mehr Geld zu machen. Der Systemzwang zur unendlichen Geldvermehrung steht logisch im Widerspruch zur Endlichkeit der natürlichen Ressourcen.<br />Ideologisch kann diese natürliche Schranke des Kapitals jedoch durch die diversen Vorstellungen von einem Green Deal bzw. grünen Kapitalismus abgewehrt werden in der Hoffnung, so schlimm werde der Klimawandel nicht und die erschöpften fossilen Brennstoffe fänden in den solaren Energien eine adäquaten Ersatz. Gleichwohl ist schwer einzuschätzen, wann die natürlichen Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation so nachhaltig vernutzt oder zerstört sind, dass eine Kapitalakkumulation nicht mehr möglich ist. <br />Diese krisentheoretischen Überlegungen betreffen jedoch allein die externen sozialen und natürlichen Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation. Zumindest im Umfeld einer radikalen Linken dürften diese Überlegungen noch weitgehend konsensfähig sein. Die wertkritische Krisentheorie geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie behauptet ja, dass das Kapital selbst seine innere Schranke sei, was meint, dass das Kapital eine innere Tendenz zur Selbstzerstörung besitzt. Erst im Kontext einer Krisentheorie des Kapitals selbst offenbart sich die Haltlosigkeit von Vorstellungen sozialer und ökologischer Regulation des Kapitalismus. Ich werde nun grob die wesentlichen Grundzüge der wertkritischen Krisentheorie, soweit sie das Kapitalverhältnis selbst betreffen, nachzeichnen.</div>
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Die innere Schranke des Kapitals</h4>
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Der alles entscheidende Ausgangspunkt einer Krisentheorie des Kapitals ist, dass Arbeit die einzige Quelle der abstrakten Reichtumsproduktion darstellt. Weil dieser Punkt von elementarer Bedeutung ist – mit ihm steht oder fällt eine jede Krisentheorie des Kapitals, muss hierauf etwas näher eingegangen werden. <br />Wenn eingangs von abstrakter Reichtumsproduktion bzw. Wert-Verwertung die Rede war, dann ist jetzt näher auf die Frage einzugehen, was der Wert eigentlich ist und wie er überhaupt produziert werden kann. Phänomenologisch drückt der Wert einer Ware eine Äquivalenzbeziehung aus. 10 Flaschen Bier = 1 Schachtel Zigaretten; 10 Ware x = 1 Ware y. Was heißt aber „ist gleich“? Betrachten wir Bier und Zigaretten ihre äußeren Gestalt nach, so sind sie ebenso wenig gleich wie im Hinblick auf ihren Gebrauch. Ihrer sinnlichen, konkret-stofflichen Gestalt nach sind zu tauschende Waren unterschiedlich. Doch in der Äquivalenzbeziehung des Tausches verschwindet diese Unterschiedlichkeit, die Waren gelten nur noch gleichviel. Gleichviel aber wovon? Worauf bezieht sich der Ausdruck, eine bestimmte Menge der Ware X sei gleich einer bestimmten Menge Ware Y? Die konkret-stoffliche Gestalt der Waren kann es nicht sein, denn diese ist nicht gleich und damit auch nicht vergleichbar. Eine Gleichheit der Waren kann offenbar nur gewonnen werden, wenn von dieser stofflich-konkreten Gestalt abstrahiert wird. Vollziehen wir diese Abstraktion, dann wird offenbar, dass Waren Arbeitsprodukte sind; darin besteht ihre Identität. Im Tausch gelten Waren objektiv nur noch als Vergegenständlichung von Arbeiten, die produktiven Tätigkeiten der Warenbesitzer werden gleich gesetzt. Doch damit verwandelt sich auch die produktiven Tätigkeiten. Denn die Tätigkeit des Bierbrauens ist grundverschieden zu der des Tabakanbaus. Durch die Äquivalenzbeziehung des Tausches wird also auch von der Unterschiedlichkeit der konkreten Produktionstätigkeiten abstrahiert. Abstrahieren wir aber von den konkreten Tätigkeiten, so gelangen wir zum Begriff der abstrakten Arbeit, der nur noch die Verausgabung menschlicher Energie ausdrückt. Es ist nun diese verausgabte menschliche Energie bzw. abstrakte Arbeit, die nach Marx und Wertkritik, Wert bildet. <br />Der rastlose Prozess der abstrakten Reichtumsproduktion der Wert-Verwertung hat also die Verausgabung abstrakter Arbeit zur Grundlage. Abstrakte Arbeit bildet Wert, der wiederum eine erweiterte Verausgabung abstrakter Arbeit verlangt. Tote Arbeit bzw. vergegenständlichter Wert wendet lebendige Arbeit an. Nichts anderes besagt die Formel des Kapitals G-W-G'. Arbeit ist also nicht – wie der Traditionsmarxismus behauptete – das Gegenprinzip zum Kapital, sondern dessen innerstes Wesen, seine Substanz. <br />In krisentheoretischer Hinsicht ist nun festzuhalten, dass Wachstumszwang und Konkurrenz der Einzelkapitale es erfordern, dass die Produktivkräfte in einem ungeheuren Ausmaß revolutioniert und gesteigert werden. Gesteigerte Produktivkraft bedeutet ja bekanntlich, dass weniger Arbeitskraft pro einzelner Ware aufgewendet werden muss. Weniger angewendete Arbeitskraft heißt weniger vergegenständlichter Wert. Einfach ausgedrückt: Die Waren sind billiger als die der Konkurrenz. Ein Einzelkapital, das eine neue produktivtätssteigernde Technologie einzusetzen vermag, setzt die Konkurrenz somit unter Druck und zwingt zur Verallgemeinerung der neuen Produktivkraft steigernden Technologie. Damit ist ein permanenter innerer Zwang der Einzelkapitale angezeigt, Arbeitskraft bzw. die Anwendung lebendiger Arbeit aus dem Produktionsprozess zu verdrängen. Gleichzeitig ist aber Arbeit – wie oben dargestellt – die einzige Quelle des Werts. Es ist so, als würde das Kapital permanent an dem Ast sägen, auf dem es sitzt. Damit das Kapital als Gesamtverhältnis nicht untergeht, muss es die permanente Verdrängung der Wertquelle durch die Ausweitung der Produktion überkompensieren. So hat die Fließbandproduktion Henry Fords die pro Auto benötigte Arbeit derart reduziert, dass das Auto durch Verbilligung zu einem Massenkonsum-Artikel wurde; indem aber der ehemalige Luxuskonsumartikel zu einem Gegenstand des Massenkonsums wurde, war eine enorme Ausweitung der Produktion möglich, die den Schwund der pro Auto vergegenständlichten Arbeit durch Steigerung der insgesamt angewendeten Arbeitskräfte bzw. Arbeit absolut überkompensieren konnte. Marx nennt diesen Prozess, in dem immer mehr tote Arbeit (vergegenständlicht in der Wertmasse hochproduktiver Technologien) immer weniger lebendige Arbeit verwertet, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Fälschlicherweise wird mit diesem Prozess oft die wertkritische Krisentheorie assoziiert. Doch wie bereits der Begriff tendenziell andeutet, ist dieser Fall der Profitrate nur eine Tendenz, der diverse Faktoren entgegenwirken können. Solche Faktoren können die absolute Ausdehnung der Produktion im Kontext eines Massenkonsums (wie im Fordismus), die territoriale Ausdehnung und Eroberung neuer Märkte (Protektionismus oder Imperialismus) oder die Schaffung völlig neuer Produkte sein. In all diesen Fällen wird das Sinken der Profitrate durch die Ausdehnung der Profitmasse mehr als ausgeglichen. Erst wenn solche kompensatorischen Faktoren nicht mehr greifen, entsteht eine Situation, in der der Profitratenfall in einen absoluten Fall der Profitmasse übergeht. Wann ein solcher Fall genau eintritt, ist mit Sicherheit nicht bestimmbar, denn die grundlegenden Formen der abstrakten Reichtumsproduktion (abstrakte Arbeit und Wert) sind keine empirischen Größen; sie sind also nicht messbar. Gleichwohl spricht aus Sicht der Wertkritik einiges dafür, dass mit der dritten industriellen Revolution bzw. der mikroelektronischen Revolution der Kapitalismus in ein Stadium eingetreten ist, in dem die Produktivkraftentwicklung eine derartige Verdrängung der wertbildenden Arbeitssubstanz etabliert hat, die nicht mehr durch Produktinnovationen und ähnliche Kompensationseffekte ausgeglichen werden kann. Für diese These sprechen die strukturelle Massenarbeitslosigkeit in den Gewinnerzonen des Weltmarktes seit den 80er Jahren, der enorme Anstieg der Staatsverschuldung, die tendenzielle Verschiebung vom alten, kolonialen Eroberungsimperialismus hin zum Sicherheits- und Ausgrenzungsimperialismus und die – auch in diesem Zeitraum stattfindende – Aufblähung der Finanzmärkte. Sollte die wertkritischen Überlegungen zur Krisendynamik des produktiven Kapital zutreffend sein, dann ist der Beginn des Krisenprozesses nicht 2007 oder 2008 zu verorten, sondern bereits in den 80er Jahren. Überhaupt ist darauf hinzuweisen, dass die Rede von Krise und Zusammenbruch des Waren produzierenden Systems keinen postmodernen Event meint, keinen punktförmigen Showdown, sondern einen längeren Prozess des schrittweisen Verfalls, der durch Krisenschübe, zeitweilige Erholungen und das Nebeneinander-Bestehen unterschiedlicher Phasen von offenem Notstand und mehr oder weniger moderateren Formen der Krisenverwaltung begleitet wird. Ein wesentlicher Aspekt, der die Verlaufsformen einer durch die Verwertungsimpotenz des produktiven Kapitals befeuerten Krisendynamik beeinflusst, ist der Prozess der Virtualisierung bzw. Fiktionalisierung des Werts. Dieser Prozess ist nicht dem oben beschriebenen Prozess zuzurechnen, bei dem der tendenzielle Fall der Profitrate durch die absolute Ausdehnung der Profitmasse überkompensiert wird. Was sich hier nämlich tatsächlich ausdehnt, ist nicht eine tatsächliche massenhafte Anwendung abstrakter Arbeit, sondern die „Produktion“ eines fiktiven Werts. Was als kasinokapitalistischer Boom von den Apologeten des Systems gefeiert wurde, ist also in wertkritischer Lesart nichts weiter als der Ausdruck einer tiefgreifenden Systemkrise.</div>
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Die Fiktionalisierung des Werts als Ausdruck der realen Verwertungskrise</h4>
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In Zeiten struktureller Überkapazitäten in der Produktion und gesättigter Märkte (zumindest im Sinne einer kaufkräftigen Nachfrage) bieten die Finanzmärkte den Einzelkapitalen, die ihre Gewinne nicht mehr gewinnbringend in den produktiven Sektor anlegen können, eine alternative Anlagemöglichkeit.<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote7sym">7</a> Produzierte Mehrwert wandert in Geldform an die Finanzmärkte und verwandelt sich in Kredit. Worum geht es beim Kredit? Betrachten wir seine Grundform, so stellt er sich als die Bewegung G-G' dar, Geld wird verliehen und kehrt als mehr Geld wieder zurück. Was zunächst nach dem endgültigen Autonom-Werden der abstrakten Reichtumsproduktion ausschaut, insofern der Umweg über die lästige Warenproduktion entfällt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine bloße Sinnestäuschung. Denn tatsächlich bleibt der Kredit (G-G') mit der Bewegung des produktiven Kapitals (G-W-G') verzahnt, weil das mehr an Geld letztlich durch den Kreditnehmer wertmäßig produziert werden muss (G- G-W-G' -G'). Die tatsächliche Abhängigkeit von produktiven und fiktiven Kapital wird insbesondere im Moment der Krise sichtbar, wenn das kreditnehmende Einzelkapital in der Wert-Produktion scheitert und weder Zins noch Kredit zurückzahlen kann. So macht sich schließlich geltend, dass 1.) eine Wertschöpfung aus dem Nichts illusorisch ist und 2.) dass das eigentliche Problem nicht im Kredit und seinen Fiktionalisierungen besteht (wie von der gängigen, mit strukturell-antisemitischen Untertönen versetzten Finanzmarkt- und Spekulantenschelte behauptet wird), sondern in der Verwertungsimpotenz des produktiven Kapitals selbst. Marx schreibt in diesem Sinn: „Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.”<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote8sym">8</a> <br />Allerdings liegt es im Wesen des Kreditsystems, die Stunde der Wahrheit über die reale Verwertungsimpotenz des produktiven Kapitals zeitlich hinausschieben zu können. Dies gilt bereits für den einfachen Kredit mit seinen Laufzeiten, wie für Kreditketten (in denen Kredite durch Kredite bedient werden) bis hin zu den mannigfaltigen Formen der Spekulation. So wirkt der Kredit und seine Derivate krisenaufschiebend. Außerdem kann der Kredit als künstliche Nachfrage auftreten und so die verschwundene Nachfrage der aus dem Verwertungsprozess wegrationalisierten Arbeitskraft-Besitzer teilweise kompensieren. Die Immobilienblase in den USA am Vorabend der Krise war genau ein solches Szenario. Die amerikanischen Häus'l-Besitzer bekamen auf ihre Häuser günstige Kredite, die vor allem in den Konsum eingingen. Das Phänomen spielte sich in einer Größenordnung ab, die die USA zum Konsumenten der globalen Überproduktion werden ließ. Das US-amerikanische Handelbilanzdefizit spricht in dieser Hinsicht Bände. Doch wie bei jedem Kredit ist irgendwann Zahltag, d.h. es muss sich erweisen, ob dem Kredit eine entsprechende reale Wertschöpfung gegenübersteht. Wenn dies nicht der Fall ist, erweist sich die Grundformel des Kredits G-G' real als das, was sie potenziell schon immer war: als eine Fiktionalisierung des Werts. Schlagartig wird die abstrakte Reichtumsproduktion auf ihre Bedingungen zurückgeworfen, d.h. auf die Krise des produktiven Kapitals und dessen schwindende Potenz, abstrakte Arbeit wertproduktiv anwenden zu können. </div>
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Von der Finanzmarktkrise zu Staatsschuldenkrise</h4>
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Um den Systemkollaps zu vermeiden, sprang nun der Staat ein, der den Durchschlag der Krise zu verhindern suchte, indem er ein Großteil der Krisenpotenz in sich aufnahm. Dies geschah u.a. durch staatliche Konjunkturprogramme (Stichwort: Abwrackprämie), die das schlagartige Wegfallen der kreditfinanzierten Nachfrage teilweise abfangen sollten, und durch die Übernahme der wertlosen Kredittitel durch quasi-staatliche bad banks. Die ohnehin hohe Staatsverschuldung, die durch die allgemeinen Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation seit dem Fordismus anfällt, transformiert sich nun zu einer manifesten Staatsschuldenkrise. Da die Staaten wiederum als Kreditnehmer auf den Finanzmärkten in einer Nachfragekonkurrenz zueinander stehen, bricht sich die Staatsschuldenkrise in denjenigen Staaten zuerst brachial Bahn, deren reale Wertschöpfungspotenz ohnehin am geringsten ist – im Kontext der EU ist dies vor allem Griechenland, aber auch Portugal, Spanien, Irland und Italien gelten als weitere Wackelkandidaten. Die Differenzen in der realen Wertschöpfungspotenz der jeweiligen Nationalökonomie sind primär das Ergebnis der Standortkonkurrenz, die im Kern darin besteht, unter geringst möglicher Vernutzung der Ware Arbeitskraft einen größtmöglichen Warenoutput herzustellen, um damit den Absatz der Konkurrenz an die Wand zu fahren. Dass Deutschland hierbei als Exportweltmeister besonders erfolgreich war, lädt ähnlich zum Brechen ein, wie die unsägliche Rede von den faulen, korrupten und misswirtschaftenden Griechen, dem deutschen Technokraten erst einmal die Flötentöne einer strengen Haushaltsdisziplin und richtigen Arbeitsmoral beibringen müssten. Dem deutschen Chauvinismus steht dabei bereits die nackte Angst ins Gesicht geschrieben, dass die Verlierer im Rentabilitätswettbewerb das Boot der relativen Krisengewinnler zum Absaufen bringen könnten. Tatsächlich ist aber auch deren Kahn Leck geschlagen. Die exponentiell wachsende deutsche Staatsverschuldung seit den 60er Jahren spricht der Sparsamkeitsrethorik Hohn, die man den Weltmarktloosern jetzt als heilende Rosskur aufzwingt. Keine schwäbische Hausfrau<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote9sym">9</a> der Welt kann das Prinzip der Kapitalverwertung und ihrer immanenten Krisendynamik dauerhaft außer Kraft setzen – auch nicht in der BRD.<br />Es bahnt sich bereits an, dass sich das Krisenpotential, das in den Widersprüchen der Kapitalakkumulation seinen Ausgangspunkt nahm, von hier aus sich auf die Finanzmärkte übertrug, um sich dann zu einer Staatsschuldenkrise transformierte, schließlich in einer Krise des Zentralmediums der abstrakten Reichtumsproduktion selbst entladen wird: Im Geld. Das Wettrennen der abstrakten Reichtumsproduktion wird am Ende keinen Sieger kennen. <br />Vor dem Hintergrund dieser krisentheoretischen Überlegungen, die hier nur grob und deskriptiv umrissen wurden, stellt sich die Dringlichkeit und Ausrichtung einer Emanzipationsperspektive auf ganz spezifische Art. Demnach gilt es, sich von der Herrschaft der abstrakten Reichtumsproduktion mit ihren Grundformen von abstrakter Arbeit und Wert zu emanzipieren. Doch unglücklicherweise sind abstrakte Arbeit und Wert keine Gegenstände irgendwo da draußen, sondern durch uns gesellschaftlich konstituiert. Sie stellen die Art und Weise dar, wie wir uns gesellschaftlich vermitteln. Arbeiten gehen, Geld verdienen, kaufen und verkaufen sind keine bloß äußerlichen Handlungen, sie bestimmen in vielerlei Hinsicht unser Denken und Fühlen; ja, sie sind uns zur zweiten Haut geworden. Robert Kurz formulierte das daraus erwachsende Dilemma einmal so: „Die Passagiere der Titanic wollen an Deck bleiben, und die Kapelle soll weiterspielen.“<a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote10sym">10</a> Dieses Phänomen spiegelt sich in dramatischer Weise auch und gerade in den Protestbewegungen wieder, die nur selten mit ihren programmatischen Entwürfen die bürgerlichen Vergesellschaftungsformen in den Fokus bekommen. Solange sich keine emanzipatorische Kraft formiert, die die Abschaffung einer Vergesellschaftung über den Wert theoretisch wie praktisch ernsthaft in den Blick nimmt, muss konstatiert werden, dass wir die Produzenten der Krise, dass wir die Krise sind. <br /><br /><br /><u>Fußnoten</u><br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote1anc">1</a><a href="http://www.krisis.org/2000/neues-vom-weltuntergang">http://www.krisis.org/2000/neues-vom-weltuntergang</a>, Stand: 29.03.2012.<br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote2anc">2</a>Betrachtet man das marxistische Diskursfeld, so steht Michael Heinrich und andere Vertreter der Neuen Marxlektüre insofern der Wertkritik relativ nahe, als dort die Kategorie des Werts in das Zentrum der Marx-Exegese gerückt wird. Dabei sind jedoch Unterschiede der Wert-Bestimmung zu beachten <br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote3anc">3</a>Als ein letztes unrühmliches Beispiel dieser Ohnmacht kann Wolfgang Pohrt, ehemals hoffnungsvolle Theorieepigone der kritischen Theorie, betrachtet werden. Sein neuestes Buch „Kapitalismus forever“ ist eine aggressives Plädoyer für die Anerkennung der Allmacht des Kapitals. <br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote4anc">4</a>Die Argumentation ist einigermaßen Komplex und der Teufel steckt wie immer im Detail; um dies zu illustrieren, sei auf die theoretischen Entwürfe von Michael Heinrich und Robert Kurz verwiesen, die beide sich in ihrer Kapitalismuskritik zentral auf die Kategorie des Werts beziehen. Die von ihnen vorgenommenen kategorialen Bestimmungsunterschiede erscheinen von weitem betrachtet marginal, doch sind sie so folgenschwer, dass sich für den Einen einen fundamentale Krisentheorie geradezu verbietet, während sie für den Anderen zwangsläufig ist. <br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote5anc">5</a>Diese Intensivierung bzw. Verdichtung der Arbeit hat vielerlei Gesichter und steht im schreienden Kontrast zu Massenarbeitslosigkeit. Ihre schrillste Ausformung ist bekanntlich der Tod durch Arbeit, ein Phänomen, das in Japan so weit verbreitet ist, dass es mit einen eigenen Begriff belegt wurde: Karoshi. Bekannter dürften jedoch hierzulande die Selbstmorde beim iPad-Zulieferer Foxconn oder die Selbstmordserie in der französischen Telekom sein.<br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote6anc">6</a>Vor der Krise wären Geldpfuschertheorien, wie die von Silvio Gesell vom akademischen Mainstream als auch von den seriösen bürgerlichen Medien wahrscheinlich noch des Obskurantismus geziehen und links liegen gelassen worden. Im Kontext der Krise und der Erschütterung der neoklassischen Paradigmen sucht das bürgerliche Bewusstsein verzweifelt nach Interpretationsmustern, die über eine Regulation des Geldes den Kapitalismus zu retten gedenken. Die Palette reicht dabei vom Vollgeld-Entwürfen bis zum Klassiker der Zinskritik. Ein Beispiel für die Renaissance des ökonomischen Obskurantismus im bürgerlichen Bewusstsein ist das Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Onken in der Zeit „Geld muss rosten!“, <a href="http://www.zeit.de/2012/12/Interview-Onken">http://www.zeit.de/2012/12/Interview-Onken</a>, Stand: 20.03.2012.<br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote7anc">7</a>Hätte es diese Möglichkeit nicht gegeben, wäre der Kapitalismus mit Sicherheit bereits in den 80ern massiven Krisenschüben unterworfen gewesen. <br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote8anc">8</a>Karl Marx, MEW 12, S. 336 f.<br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote9anc">9</a><a href="http://de.euronews.com/2011/10/28/merkel-ruft-jahre-der-schwaebischen-hausfrau-aus/">http://de.euronews.com/2011/10/28/merkel-ruft-jahre-der-schwaebischen-hausfrau-aus/</a>, Stand: 29.03.2012.<br /><a href="http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote10anc">10</a>Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung, S. 297.</div>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-63310903580647532232009-09-05T16:04:00.005+02:002009-09-05T16:30:07.648+02:00Über die Unmöglichkeit, Gutes zu tun und Schlechtes zu lassen<div style="font-family: inherit;"><style type="text/css">
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</style></div><div align="RIGHT" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; page-break-before: always;"><i>"Gutes tun, Gutes tun,<br />
Gutes tun ist gar nicht schwer.</i></div><div align="RIGHT" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><i>Man kann soviel Gutes tun</i></div><div align="RIGHT" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><i>zu Hause und im Kreisverkehr"</i><sup><i><a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote1sym" name="sdfootnote1anc"><sup>1</sup></a></i></sup></div><div align="RIGHT" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><i>Funny van Dannen</i></div><h1 class="western" style="font-family: inherit;">Über die Unmöglichkeit, Gutes zu tun und Schlechtes zu lassen</h1><div style="font-family: inherit;"><b>Essay über Finanzmarktkrise, Spekulantenschelte und Grenzen der Moralität</b></div><div style="font-family: inherit;">Christian Höner</div><div style="font-family: inherit;"></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;">Es gibt kaum ein aktuelleres und dankbareres Thema, dass sich als Dauerbrenner für die Problematik von Schuld und Verantwortung im gesellschaftlichen Maßstab anbieten würde als die Finanzkrise und ihre vermeintlichen Akteure - die so genannten Spekulanten. In keinem anderen Berufszweig scheinen sich die Fragen richtigen bzw. falschen moralischen Handels so zwingend zu stellen wie hier, nirgendwo prallen moralischer Idealismus und gesellschaftliche Wirklichkeit so scharf aufeinander und nirgendwo treten die Grenzen und das Scheitern von Moralität deutlicher hervor als bei den Yuppies von der Börse. Die besonderen moralischen Ansprüche, die an diesen Berufsstand angelegt werden, dürften zunächst einmal damit zu tun haben, dass die gesellschaftlichen Konsequenzen dererlei Finanzgeschäfte eine enorme Reichweite besitzen. Nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 -und dem vermeintlichen Versagen der Finanzmarktakteure- steht die globale Ökonomie vor einer ihrer schwersten Krisen, wenn nicht gar vor einem Abgrund. </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;">Aber es sind nicht nur die globalen Folgewirkungen, die den Berufsstand des Bänkers bzw. Hedgefonds-Managers ins Blickfeld der Betrachtung rücken. Es ist vielmehr das, wofür die Charaktermaske des Finanzkapitalisten steht -um eine Marx'sche Begrifflichkeit ins Spiel zu bringen- bzw. wofür sie gehalten wird; es geht um eine Verdichtung von moralischen Ansprüchen an dieser Figur, die sich nicht nur aus den Folgekosten ihren Treibens ergeben. Vielmehr erscheint die Gestalt des Börsenmaklers als das Mensch gewordene Substrat einer Veranstaltung, die als Kapitalismus letzthin in Verruf geraten ist. In dieser Gestalt bündeln sich dessen Attribute und finden ungeschönte Ausstellung: geld- und profitgierig, ideallos, materiell orientiert, zynisch, kühl kalkulierend, über Leichen gehend. Als Verkörperung dieser Werte galt der Börsianer schon vor der Krise als zumindest im moralischen Sinn anstößig. Popkulturell ist der Börsianer von Hollywood bereits in der Boom-Phase des Yuppietums Mitte der 80er Jahre aufgegriffen und bearbeitet worden - also weit vor jeder ernstzunehmenden Krise. In dem Oliver Stone-Film "Wall Street" begegnen wir der idealtypischen Personifikation eines skrupellosen Börsenmaklers, kongenial dargestellt von Michael Douglas. Er bildet mit seiner Figur des Milliardärs Gordon Gekko das böse Zentrum des Filmes, wenn man so will das Herz der Finsternis, in das sich der Kapitalismus zurückgezogen hat, bevor er der Welt der sozialen Marktwirtschaft Platz machen musste<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote2sym" name="sdfootnote2anc"><sup>2</sup></a></sup>. Kapitalismus -so lehrt uns der Film- ist keine totalitäre gesellschaftliche Formation, sondern eine Charaktereigenschaft, eine Untiefe der Seele. Das Unmoralische liegt im Verborgenen. Stone nimmt uns also mit auf eine Odyssee der Moral und sein Odysseus heißt Bud Fox, gespielt von Charlie Sheen. Fox ist zunächst ein leidlich erfolgreicher Börsenmakler in einer drittklassischen Finanzmarktbude. Seine Mittelmäßigkeit reicht hin, um uns mit ihm identifizieren zu können. Erst der Sirenengesang des plötzlichen Erfolgs ent- bzw. verführt uns mit ihm in die Welt des Glamours, des unbegrenzten Luxus, der tollen Autos und der befriedigenden Sexualpartner, kurz: der falschen Götter bzw. der falschen Werte. Sie werden uns vorgestellt als Scheinwelt, hinter deren glitzernder Fassade die blanke Gier steckt. Diese Gier kennt keine Grenzen, vor allem keine moralischen. Und so kommt, was kommen muss: Die heile Welt der sozialen Marktwirtschaft, repräsentiert durch eine Firma, in der Fox' Vater tagtäglich 'ehrliche Arbeit' verrichtet, wird zum Spielball des skrupellosen Finanzmagnaten. Fox sieht sich nun vor eine Wahl gestellt, die bekanntlich die Voraussetzung einer jeder Moralität ist. Also endet der Film mit einer Fahrt zum Gericht, wo Schuld und Verantwortung zueinander finden sollen. Dass sich der Film mehr um die Figur des skrupellosen Börsenmaklers dreht als um die von ihm produzierten sozialen und ökonomischen Folgekosten, die im Film nur angedeutet werden, verweist darauf, dass zur damaligen Zeit Oliver Stone als auch das Publikum nur an Fragen der Moralität interessiert waren. Klar, die aufstrebenden Yuppies nervten mit ihrer unverhohlenen Oberflächlichkeit. Ihnen sollte der moralische Stinkefinger gezeigt werden. Dass sie aber das ganze System in die Scheiße reiten würden, daran hätte doch im Ernst niemand geglaubt. </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;">Das war vor dem Millenium. Die casinokapitalistische Virtualität, gleichwohl soziale Wirklichkeit der 80er und 90er Jahre, wurde schlagartig geerdet. Was blieb, war der Katzenjammer und die moralische Perspektive. Nur verschärfte sich deren Ton: das ehemals moralisch nur Anstößige wurde nun offenkundige Schuld. Entsprechend einhellig wogt die Empörung um den Globus und durch das deutsche Ländle. Rechte und linke Parteien klagen die Übeltäter an und wissen sich eins mit dem gesunden Menschenverstand; ja, selbst die Liberalen sehen die schwarzen Schafe der Branche am Werk. Gäbe es keine Verantwortlichen, sie müssten erfunden werden.</div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;">Es <i>muss</i> geradezu am Subjekt liegen, sei es im individuellen oder im kollektiven Sinne. Nur in der Subjektform kann der Vorwurf der Schuld greifen, kann Moralität eingefordert werden. Wie sollte es auch anders sein? Dass etwas Objektives schuld sein könnte, ist fürwahr eine gewagte Vorstellung. Wenn ein Flugzeug abstürzt, ist dann die Schwerkraft schuld? Sicher nicht, zumindest nicht in einem moralischen Sinn. Und wie wollte man sie verantwortlich machen? Nein, Schuld und Verantwortung hängen am Begriff des Subjekts, sie sind miteinander verwachsen. </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;">Es ist dasselbe Denken, das von einer kategorialen Unschuld des Objektes ausgeht und meint, eine Vorderschaftsrepetierflinte sei ein schnöder Gegenstand, so wie z.B. ein Käsekuchen und nur der subjektive Finger, der abdrücke, könne zur Verantwortung gezogen werden.</div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;">In ähnlicher Weise stellt sich das Problem bezüglich der Finanzkrise dar. Geradezu reflexhaft wird nach den Schuldigen, nach den Verantwortlichen Ausschau gehalten, die man eben zur Verantwortung ziehen kann; es muss sie ja geben. Es kann, nein, <i>es darf</i> nicht an der Struktur, an objektiven Gründen liegen; undenkbar, dass die zur Quasi-Objektivität geronnenen gesellschaftlichen Formen von Ware und Geld Schuld am Desaster sein könnten. Irgendjemand muss doch irgendetwas falsch gemacht haben, irgendjemand hat sich daneben benommen. Um die Schuldigen dingfest zu machen, schrecken deutsche Finanzminister noch nicht einmal davor zurück, mit Karl Marx einen einstmals zum toten Hund Erklärten als Kronzeugen vorzuführen. Marx, der am Kapitalismus und seinen Freunden kaum ein gutes Haar gelassen hat, scheint sich als Ankläger geradezu anzubieten. Wer es jedoch genauer wissen will und bei Marx nachschlägt, wird (zumindest in dieser Beziehung) eine herbe Enttäuschung erleben. Denn bereit<span style="font-size: small;">s in der Einleitung seines Hauptwerkes "Das Kapital" verkündet Marx: </span> </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; margin-left: 1.25cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-weight: normal;">"Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in einem rosigen Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind [...] Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag."<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote3sym" name="sdfootnote3anc"><sup>3</sup></a></span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-weight: normal;">Kapitalismus heißt für Marx offenbar nicht dasselbe wie für Oliver Stone. War Kapitalismus für letzteren eine subjektive Charakterschwäche, so ist er für Marx ein besonderes gesellschaftliches Verhältnis und die Subjekte sind Kreaturen dieses Verhältnisses. Schon auf dieser grundsätzlichen Ebene deutet sich ein moralphilosophisches Dilemma an: Wie soll eine Moralität greifen können, wenn die Voraussetzung einer Autonomie der Subjekte, mit der sie operiert, nicht gegeben ist? Jede moderne Ethik steht und fällt mit dieser Autonomie. Wer nun denkt, Marx würde die Autonomie und das Subjekt einfach durchstreichen, liegt jedoch daneben. Marx zeigt vielmehr, dass die Autonomie des Subjekts eine gesellschaftlich gemachte und damit Bedingungen unterworfen ist. Es ist die Crux aller Moralphilosophie, dass sie von diesen gesellschaftlichen Bedingungen nichts weiß oder nichts wissen will. Viel lieber schneidet sie Personen und Handlungen aus Kontexten aus, um die Bedingungen durchzustreichen, die das autonome Subjekt als Moralträger überhaupt erst herstellen.</span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-weight: normal;">Kann bereits auf dieser grundlegenden Ebene ein Moraldiskurs nicht greifen, so wird er hinsichtlich der Ursachenbestimmung von Spekulationskrisen völlig absurd. Im dritten Band des Kapitals, der sich mit dem zinstragenden und fiktiven Kapital beschäftigt, entwickelt Marx nämlich eine Perspektive auf das Problem der Finanzmarktkrise, die den gängigen Erklärungsmustern diametral entgegen läuft. Nicht die Spekulation fiktiven Kapitals ist demnach die Ursprungsort des Crashs, sondern hat seine Ursache in den Widersprüchen der Produktion selber, ist also bereits im prozessierenden Realkapital angelegt.</span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; margin-left: 1.25cm;">„<span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.”<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote4sym" name="sdfootnote4anc"><sup>4</sup></a> </span></span></span> </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Es ließe sich von hier aus zeigen, dass die Aufblähung der Finanzmärkte seit den frühen 1980er Jahren eine Reaktion auf die angestauten Krisenpotentiale des fordistischen Produktionsregimes war, dass es weiterhin die ehrliche Arbeit selber ist, die die Krisen produziert und dass die Aufblähung der Finanzmärkte eine fiebrige Reaktionsform auf diese Krisen darstellt, die so zwar nicht überwunden, jedoch aufgeschoben werden können. Eine dezidierte Darstellung dieser Problematik kann hier natürlich nicht geleistet werden. Sekundär soll zumindest darauf verwiesen werden, dass die gängige Spekulantenschelte ohne Marx als Kronzeugen auskommen muss. Die Frage der Schuld und Verantwortung ließe sich mit Marx bezüglich der aktuellen Finanzmarktkrise nur beantworten, wenn wir die Grenzen der Moralphilosophie überschreiten würden und auch etwas Objektives zum Gegenstand moralischen Urteils werden würde, nämlich die Quasi-Objektivierung der gesellschaftlichen Verkehrsformen von Arbeit, Ware und Geld. Die gelten dem bürgerlichen Denken jedoch als unberührbar. Wenn einige Wirtschaftsethiker sich dem allgemeinen Konsens in Sachen Spekulantenschelte entgegengestellt haben, dann nur, um das Problem der Schuld und Verantwortung von einem Subjekt auf das andere zu verschieben - bis hin zur Konfusion. </span></span></span> </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; margin-left: 1.25cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">"Deutschlands führender Wirtschaftsethiker Karl Homann hält die Finanzkrise in erster Linie für ein Systemproblem, nicht für ein Problem persönlichen Fehlverhaltens. »Ich warne vor dem Moralisieren«, sagte der Wissenschaftler von der Universität München im FTD-Interview. »Alle individuellen Kategorien wie Egoismus oder Gier führen in die Irre.« [...] Was jetzt als »Gier« gegeißelt werde, sei im System angelegt: »Unser ganzer Wohlstand beruht auf dem Gewinnstreben, auf dieser Gier. Sie können im Wettbewerb gar nicht anders, weil sonst der andere Sie übernimmt«, meint Homann."<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote5sym" name="sdfootnote5anc"><sup>5</sup></a> </span></span></span> </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Soweit so gut. Man könnte fast meinen, Deutschlands führender Wirtschaftsethiker stünde unmittelbar vor einer radikalen Systemkritik, die anhebt, die systemische Gier zu geißeln. Doch am Ende kennt die Ethik nur Subjekte. Diesem Dogma muss sich auch ein Karl Homann beugen. Das System mag Scheiße sein, wie es will, Kritik daran verbietet sich wie von selbst. Moralität muss von außen kommen, vom Subjekt, in diesem Fall vom Staat:</span></span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; margin-left: 1.25cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">"Bei der schnelllebigen Finanzbranche müssten die Regulierungsbehörden dagegen täglich die Marktentwicklung beobachten und schädliche Produkte verbieten. Jedes halbe Jahr müssten die Regeln überprüft werden. »Ethik in der Wirtschaft ist heute primär ein Organisationsproblem, kein individuelles Problem.«"<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote6sym" name="sdfootnote6anc"><sup>6</sup></a></span></span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Trägt der Staat zwar nicht die Schuld, so soll er doch die Verantwortung für die Regulierung und die Schulden tragen. Dass die Privatisierung der privat akkumulierten Schulden problematisch sein könnte, weiß auch Homann. Doch die Schuldfrage bleibt ungeklärt und so trägt er sie wie eine heiße Kartoffel, von der er nicht weiß, wohin. Alle Konsistenz nun fahren lassend, dementiert er sein eigenes Moralisierungsverbot: </span></span></span> </div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; margin-left: 1.25cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">"Die verantwortlichen Manager müssen verschwinden. Ihr Vermögen muss herangezogen werden, dann werden sie sich ihr Verhalten in Zukunft gut überlegen."<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote7sym" name="sdfootnote7anc"><sup>7</sup></a></span></span></span></div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Es sind wahrlich schwere Zeiten für Börsenmakler. Einerseits sollen sie den systemischen Imperativen folgen, weil diese unseren Wohlstand schaffen. Andererseits sollen sie es auf eine Art tun, die mit den systemischen Imperativen nicht vereinbar ist. Im Berufsstand des Börsenmakler wird dieser Widerspruch auf die Spitze getrieben. Die Logik der Gewinnmaximierung ist für alle produktiven Sparten ehernes Gesetz. Jeder Autobauer funktioniert nach diesem Prinzip. Doch nur der Börsianer scheint es in Reinform zu repräsentieren; er steht für die Logik des Ganzen<a class="sdfootnoteanc" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote8sym" name="sdfootnote8anc"><sup>8</sup></a>. Und gerade deswegen wird von ihm das Unmögliche eingeklagt. Sich-moralisch-verhalten unter diesen Bedingungen hieße aber, baden zu gehen, ohne sich nass zu machen.</span></span></span><br />
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</div><div align="JUSTIFY" style="font-family: inherit; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"></div><div id="sdfootnote1" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote1anc" name="sdfootnote1sym">1</a>Funny van Dannen: Album "Clubsongs" (1995)</span></div></div><div id="sdfootnote2" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote2anc" name="sdfootnote2sym">2</a>Bekanntlich gilt für die postmoderne Welt, in der wir leben, Schein mehr als Sein. Insofern ist es nur konsequent, wenn auf die reale Bedrohung der "sozialen Marktwirtschaft" mit einer Image-Kampagne "Initiative neue soziale Marktwirtschaft" reagiert wird. (<a href="http://www.insm.de/">http://www.insm.de/</a>)</span></div></div><div id="sdfootnote3" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote3anc" name="sdfootnote3sym">3</a>Karl Marx: <i>MEW 23</i>, S. 16</span></div></div><div id="sdfootnote4" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote4anc" name="sdfootnote4sym">4</a></span><span style="font-size: x-small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">Karl Marx: </span></span></span><span style="font-size: x-small;"><i><span style="font-weight: normal;">MEW 12</span></i></span><span style="font-size: x-small;"><span style="font-style: normal;"><span style="font-weight: normal;">, S. 336f.</span></span></span></div></div><div id="sdfootnote5" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote5anc" name="sdfootnote5sym">5</a>Karl Homann im Interview mit Jens Tardler: "Kategorien wie Gier führen nur in die Irre", in: Financial Times Deutschland, 14.10.2008</span></div></div><div id="sdfootnote6" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote6anc" name="sdfootnote6sym">6</a>Ebd.</span></div></div><div id="sdfootnote7" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote7anc" name="sdfootnote7sym">7</a>Ebd.</span></div></div><div id="sdfootnote8" style="font-family: inherit;"><div class="sdfootnote"><span style="font-size: x-small;"><a class="sdfootnotesym" href="http://draft.blogger.com/post-create.g?blogID=235110860497648185#sdfootnote8anc" name="sdfootnote8sym">8</a>Hierin liegt auch die Nähe der Spekulantenschelte zum strukturellen Antisemitismus.</span></div></div><div style="font-family: inherit;"></div>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-14333806344701875132009-08-15T10:12:00.002+02:002009-09-05T16:11:51.967+02:00Die Ungeheuer der Vernunft<style type="text/css">
<!-- @page { margin: 2cm } P { margin-bottom: 0.21cm } P.western { font-family: "Linux Libertine" } P.sdfootnote { margin-left: 0.5cm; text-indent: -0.5cm; margin-bottom: 0cm; font-size: 10pt } A.sdfootnoteanc { font-size: 57% } -->
</style> <br />
<div class="western" style="font-family: trebuchet ms;"><span style="font-size: 100%;"><b>Essay über Gedankenexperimente als Ausdruck neuzeitlicher Vernunft</b></span></div><div class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: 100%;">von Christian Höner</span></div><div class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: 100%;"><br />
</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm;"><span style="font-size: 100%;">Es gibt eine berühmte <a href="http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ee/Goya-Capricho-43.jpg">Radierung</a> des spanischen Künstlers Francisco de Goya, auf der ein schlafender Mann zu sehen ist. Er sitzt auf einem Stuhl, den Oberkörper in einer unbequemen Verrenkung auf einen seitlich stehenden Schreibtisch gelehnt, den Kopf auf die Arme gebettet. Doch hinter ihm erheben sich die Gestalten der Nacht, Monstrositäten und Schatten zu einer bedrohlichen Kulisse. Auf der dem Betrachter zugewandten Rückseite des Schreibtisches prangt in großen Lettern der Satz: „</span><span style="font-size: 100%;"><i>El sueño de la razón produce monstruos“ - „</i></span><span style="font-size: 100%;">Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Gemeinhin wird das Bild als Mahnung gelesen, die Vernunft dürfe nie ruhen, andernfalls würden die Geister des Irrationalismus geweckt. Es handelt sich hierbei um einen zentralen aufklärerischen Topos, der auch heute angesichts globaler Krisenphänomene und ihrer ideologischen Verarbeitungsmuster immer wieder bemüht wird. Trotz großer Fortschritte in Richtung Vernunft kranke die Welt an ihrer unzureichenden Durchsetzung. Immer wieder bedrohen Atavismen und Irrationalität eine mögliche vernünftige Welt. Inwieweit dieser Zustand jemals erreicht werden könne, darüber mag nach Jahrhunderten der Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte der Vernunft hier und da Ernüchterung eingekehrt sein; sie selber scheint davon ungetrübt im alten Glanze zu erstrahlen. </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Doch ist die Vernunft tatsächlich so makellos? Immerhin bietet Goyas Bild auch eine andere Deutungsmöglichkeit: Vielleicht ist es gar nicht die Vernunft, die schläft? Vielleicht ist sie hellwach und es ist vielmehr der Mensch, der von ihr in den Schlaf gewogen wird. Demnach wäre es nicht die Abwesenheit, nicht der Mangel an Vernunft, sondern ihre Omnipräsenz, der die angsteinflößenden Dämonen entsteigen.<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote1sym" name="sdfootnote1anc"><sup>1</sup></a></sup></span><span style="font-size: 100%;"> </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Wenn im Folgenden über Gedankenexperimente reflektiert werden soll, dann geschieht dies vor dem Hintergrund einer vernunftkritischen Perspektive. Wie bei Goyas Bild stellt sich die Frage, ob die Vernunft eine Potenz hat, aus sich heraus Ungeheuer zu gebären. Dies am Beispiel von Gedankenexperimenten zu zeigen, scheint womöglich etwas abwegig. Was soll an einem Experiment ungeheuerlich bzw. kritikabel sein, das unmittelbar keine materielle Gewalt annimmt, das weiterhin sich nur im Kopf einer Person abspielt, die zudem auch noch in der Lage ist, das Experiment jederzeit abzubrechen, sobald es ihr nicht mehr geheuer sein sollte? Tatsächlich geht es nicht darum, Gedankenexperimente generell zu verwerfen. Vielmehr werden Gedankenexperimente hier als Ausdruck einer historisch-spezifischen Vernunft vorgestellt, die etwas von deren ungeheuerlicher Potenz in sich widerspiegeln.</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Wenn auf eine bedrohliche Dimension der Vernunft hingewiesen werden soll, auf angebliche Ungeheuer, die ihr entsteigen würden, dann müssen diese auch die Räume der gedanklichen Experimente durchstreifen. Sind doch Gedankenexperimente die Orte, an denen die Vernunft ihre Prämissen ungeniert setzen kann; hier stellt sie ihre Postulate auf, entwirft die Versuchsanordnungen nach ihrem Gutdünken und führt nach ihren Gesetzen die Experimente durch. Keine Empirie, die sich in den Experimenten störend geltend macht, trübt die Verfahren des reinen Geistes.</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Bevor jedoch an einem Beispiel Gedankenexperimente als Ausdruck neuzeitlicher Vernunft vorgestellt werden können, sind einige Anmerkungen bezüglich der Kategorie der Vernunft vonnöten: Denn es ist alles andere als selbstverständlich, dass diese Kategorie als historisch-spezifische Reflexionsform gefasst wird. Vorherrschend sind vielmehr Vorstellungen, die die Vernunft als das Denkvermögen des Menschen schlechthin betrachten. Es ist insbesondere die</span><span style="font-size: 100%;"><span style="font-style: normal;"> neuzeitliche Philosophie, die dieser Vorstellung zum Durchbruch verholfen hat. Unter Berufung auf einen in der Natur des Menschen angesiedelten Vernunftbegriff wendet sie sich gegen die als dogmatisch denunzierten religiösen Ordnungssysteme vormoderner Gesellschaften, namentlich gegen das europäische Mittelalter. Ihrem idealisierten Selbstverständnis nach will sie dem Menschen einen Weg aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit weisen. Doch führt diese angestrebte Mündigkeit nicht nur zu einer freiwilligen Unterwerfung unter das Gesetz der modernen Vernunft, was der hehren Mündigkeit doch einen gewissen schalen Beigeschmack verleiht, sondern auch zu dem Umstand, dass das weltliche System dieser Vernunft sich immer auf (welt)bürgerliche Ordnung reimt (von Kapitalismus zu reden, ist bekanntlich aus der Mode gekommen). Für die Aufklärung war also der Zusammenhang von Vernunft und bürgerlicher Gesellschaft evident, allerdings unter positivistisch-ontologischem Vorzeichen. </span></span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;"><span style="font-style: normal;">Diese Legitimation der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Vernunftform durch deren Verankerung in der menschlichen Natur ist nicht unwidersprochen geblieben.</span></span><span style="font-size: 100%;"> Entsprechende Positionen<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote2sym" name="sdfootnote2anc"><sup>2</sup></a></sup></span><span style="font-size: 100%;"> gehen davon aus, dass die moderne Vernunft eine historisch-spezifische Reflexionsform darstellt, die mit der Totalisierung der Warenform seit Beginn der Neuzeit auf das Engste zusammenhängt. Der sich in dieser Zeit herausbildende warengesellschaftliche Zusammenhang beruht demnach auf einer Universalisierung der Waren- und Geldbeziehungen. Wie Marx analysiert hat, findet im Kern dieser Beziehungen eine eigentümliche Abstraktion statt, die nicht nur das Kunststück vollbringt, sinnlich-konkrete Gegenstände auf ein abstraktes gemeinsames Drittes zu reduzieren, sondern diesem im Geld eine eigenständige, handgreifliche Gestalt zu geben. Im Kapital schließlich schwingt sich diese Abstraktion, die Marx den Wert nennt, zu einem selbstzweckhaften, weltumspannenden, ja weltsynthetisierenden Prozess auf. Es ist diese Abstraktion des Werts, die den Weltinhalt vermittelt, synthetisiert. Der inhaltsleeren Abstraktion des Werts steht eine Welt fragmentierten, variablen Inhalts gegenüber. Runtergebrochen auf das Alltagsbewusstsein erscheint diese Logik im Verhältnis des Geldes zu den Waren. Während letztere einen variablen Inhalt repräsentieren, kommt dem Geld die Funktion zu, den Inhalt zu verknüpfen. Reine Form auf der einen Seite und kontextloser Inhalt auf der anderen, das ist die Schablone des Denkens, wie es für die Moderne konstitutiv ist. Diese in tagtäglichen Operationen vollzogene Syntheseleistung (E. Bockelmann) ermöglicht und erfordert eine Revolution der Denkungsart. Die Entleerung des Geistes von jeglichem Inhalt, seine Reduktion auf eine inhaltsleere bzw. reine Vernunftsubstanz, ist ein Alleinstellungsmerkmal der modernen Vernunft<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote3sym" name="sdfootnote3anc"><sup>3</sup></a></sup></span><span style="font-size: 100%;">. René Descartes wird zurecht als einer der ersten philosophischen Repräsentanten dieses Denkens betrachtet, denn er vollzieht nicht nur radikal die Trennung von Geist (</span><span style="font-size: 100%;"><i>res cogitans</i></span><span style="font-size: 100%;">) und Körper (</span><span style="font-size: 100%;"><i>res extensa</i></span><span style="font-size: 100%;">), sondern eliminiert alle Inhalte konsequent aus dem Denken. Am Ende aller Zweifel steht bei Descartes die letzte Gewissheit einer denkenden Substanz, die sich nur noch ihrer Selbst sicher sein kann - bar jeden Inhalts. </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Mit dem Gedankenexperiment „Das Gehirn im Tank“ werden diese Überlegungen Descartes' direkt aufgegriffen und in eine Frankenstein'sche Versuchsanordnung übersetzt: Ein Gehirn schwimmt in einem Bassin, das mit einer Nährlösung gefüllt ist. Mittels Elektroden werden dem Gehirn über neuronale Verbindungen elektromagnetische Impulse und Signale zugeführt. Der böse Geist, bei Descartes ein die Wahrnehmung manipulierender Demiurg, hat im Gedankenexperiment die Form eines verrückten Wissenschaftlers angenommen und füttert das Gehirn mit Sinneseindrücken einer Welt, die außer im Gehirn nirgendwo existiert. Gleichsam wie die bedrohlichen Schatten aus Goyas Radierung stellt sich für uns nun die ungeheuerliche Frage, woher wir eigentlich die Gewissheit nehmen können, dass nicht wir selbst es sind, die als Gehirne in irgendeinem Nährlösungsbecken unser Dasein fristen. Innerhalb der Philosophie ist es bis heute umstritten, ob hierauf eine wie auch immer geartete Antwort gegeben werden kann. Folgen wir Descartes' Vernunftbegriff, dann bleibt das „Gehirn im Tank“ eine mögliche Variante unserer Existenz. Der Mensch als Sinnenwesen erscheint im höchsten Maße frag- und misstrauenswürdig. Ein bisschen Trost – wie könnte es anders sein – finden wir in der Vernunft. Ob als „Gehirn im Tank“ oder als Student im </span><span style="font-size: 100%;"><span style="font-weight: normal;">Bachelor-S</span></span><span style="font-size: 100%;">tudiengang gefangen, uns bleibt die letzte Gewissheit der Vernunft, die sich zwar allem Inhalt in der Welt nicht mehr sicher sein kann, dafür aber ihrer selbst umso stärker gewiss ist. </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Mit dem „Gehirn im Tank“ kommt in der Form eines Gedankenexperimentes das Moment einer modernen Form von Weltfremdheit bzw. Weltentfremdung zum Ausdruck, wie sie für die bürgerliche Subjektivität und deren Vernunftkern konstitutiv ist. Die Leere des Subjekts gründet in der Leere der Vernunft. Gleichwohl ist es diese Vernunft, mittels derer sich der moderne Mensch auf seinesgleichen und auf die Welt bezieht, also auf Inhalte, die ihm aber stets äußerlich und fremd bleiben. In der alten Welt war der Mensch noch eingeschrieben und eingebunden in einen religiösen Kosmos, in ein sinnstiftendes System und dessen tradierte Werte (das hier keineswegs in einem rosigen Licht gemalt werden soll). Das bürgerliche Universium bricht mit dieser Welt radikal und tritt einen atemberaubenden Revolutionierungsprozess los, der permanent tradierte Bindungen sprengt und eine stete Neukonstruktion von Identitäten erfordert, ein Prozess, der sich soziologisch in den bekannten Atomisierungs- und Individualisierungsprozessen (U. Beck) niedergeschlagen hat. Das nunmehr in der von der Vernunft verwalteten Welt angekommene bürgerliche Subjekt sucht den Sinn, der ihm qua eigener Verfasstheit abhanden gekommen ist. So kommt der Glauben der alten Welt als Sinnsurrogat zu neuen Ehren. Schon Kant wusste keine sinnvolle Begründung für sein System der Vernunft, weshalb er Gott, Unendlichkeit und Freiheit postulierte – als notwendige Annahmen, um an ihnen sein System der Vernunft aufzuhängen. </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Das „Gehirn im Tank“ spiegelt also nicht nur eine erkenntnistheoretische Fragestellung wider, sondern auch die Unsicherheit einer Subjektivität, deren Weltinhalt und Weltbezug einer permanenten Erosion ausgesetzt ist. Es wundert daher nicht, wenn das hier behandelte philosophische Gedankenexperiment in modifizierter Form auch durch die Popkultur aufgegriffen worden ist. Mit „The Matrix“ (1999), „Öffne die Augen“ (1997) und dessen Hollywood-Remake „Vanilla Sky“ (2001) beschäftigen sich mehrere Filme zur Jahrtausendwende mit dem Gedanken einer virtuellen Realität und deren Entfremdungspotentialen, also genau zu der Zeit, als die Fiktionalisierung der globalen Ökonomie mit der Dotcom-Blase ihren Höhepunkt erreichte<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote4sym" name="sdfootnote4anc"><sup>4</sup></a></sup></span><span style="font-size: 100%;">. Während „Öffne die Augen“ bzw. „Vanilla Sky“ den Horror-Trip einer virtuellen Identität auf individueller Ebene durchdeklinieren, gehen die dystopischen Vorstellungen von „The Matrix“ einen Schritt weiter: Hier liegt gleich der größte Teil der menschlichen Gesellschaft in Nährlösungsbecken, die Gehirne zu einem gigantischen neuralen Netzwerk zusammengeschlossen, dessen virtuelle Welt, Matrix genannt, durch eigenständig agierende Computer generiert wird. Pikanterweise entspricht die virtuelle Welt der Matrix ziemlich genau der Welt, wie sie sich für uns alltäglich darstellt: Arbeiten gehen, Geld verdienen, Verträge abschließen und kündigen, kulturindustriell produzierte Freizeit genießen und die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten im Rahmen einer staatlichen Menschenverwaltung wahrnehmen.<sup><a class="sdfootnoteanc" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote5sym" name="sdfootnote5anc"><sup>5</sup></a></sup></span><span style="font-size: 100%;"> Das könnte die Matrix sein: Eine aus Nullen und Einsen generierte Welt, die sich prima verwalten lässt unter der kalten Sonne der Vernunft. In Wirklichkeit ist sie aber der Blockbuster gewordene Widerschein des eisernen Gehäuses der Hörigkeit (M. Weber) unserer warengesellschaftlichen Wirklichkeit. </span> </div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; line-height: 150%; margin-bottom: 0cm; text-indent: 0.5cm;"><span style="font-size: 100%;">Etwas anderes zu wollen, liegt außerhalb des Universums der modernen Vernunft. Unsere soziale Phantasie reicht demnach kaum aus, eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit überhaupt zu denken. So wie die Matrix für deren Bewohner ist die moderne Vernunft ein Gefängnis für unseren Verstand. Diesem Universum zu entkommen, scheint genauso absurd und aussichtslos wie ein Fluchtversuch aus der Matrix. Das Gehirn schwimmt wohl doch im Tank.</span></div><div class="western" style="font-family: trebuchet ms; page-break-before: always;"><span style="font-size: 85%;"><b>Literatur:</b></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;">Beck, Ulrich 1986. </span><span style="font-size: 85%;"><i>Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne</i></span><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">, Frankfurt/Main: Suhrkamp</span></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;">Bockelmann, Eske 2004. </span><span style="font-size: 85%;"><i>Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens</i></span><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">, Springe: Zu Klampen Verlag</span></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">Descartes, René [1641] 1998:</span></span><span style="font-size: 85%;"><i> Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, </i></span><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia</span></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%; font-style: normal;">Kant, Immanuel [1784] 1998. </span><span style="font-size: 85%;"><i>Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?</i></span><span style="font-size: 85%; font-style: normal;">, </span><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia</span></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">Kant, Immanuel [1793] 1998. </span></span><span style="font-size: 85%;"><i>Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft</i></span><span style="font-size: 85%;"><span style="font-style: normal;">, Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia</span></span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"><a href="" name="btAsinTitle"></a></span> <span style="font-size: 85%;">Kurz, Robert 2004. </span><span style="font-size: 85%;"><i>Blutige Vernunft. </i><i>Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer "westlichen Werte"</i></span><span style="font-size: 85%; font-style: normal;">, Bad Honnef: Horlemann Verlag</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"> Marx, Karl [1867] 1982. <i>Das Kapital. Bd 1. Der Produktionsprozess des Kapitals, </i></span><span style="font-size: 85%; font-style: normal;">Berlin: Dietz Verlag</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"> Müller, R.W. 1977. <i>Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewusstsein und Rationalität seit der Antike</i>, Frankfurt a.M.: Campus Verlag</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"> Ortlieb, Claus-Peter 1998. </span><span style="font-size: 85%; font-style: normal;">"Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft"</span><span style="font-size: 85%;"><i>, krisis21/22</i>, Bad Honnef: Horlemann Verlag, S. 15-51</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"> Sohn-Rethel, Alfred 1961. <i>Warenform und Denkform. Aufsätze</i>, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt</span></div><div align="JUSTIFY" class="western" style="font-family: trebuchet ms; margin-left: 0.74cm; text-indent: -0.74cm;"><span style="font-size: 85%;"> Weber, Max [1922] 2001. <i>Wirtschaft und Gesellschaft</i>, Digitale Bibliothek 58: Max Weber Gesammelte Werke, Berlin: Directmedia</span></div><div class="western" style="font-family: trebuchet ms;"><span style="font-size: 85%;"><br />
<br />
</span></div><div id="sdfootnote1" style="font-family: trebuchet ms;"><div align="JUSTIFY" class="sdfootnote"><span style="font-size: 85%;"><a class="sdfootnotesym" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote1anc" name="sdfootnote1sym">1</a>Für diese Interpretation des Goya Bildes spricht, dass unter den bedrohlichen Schatten neben Fledermäusen auch viele Eulen zu sehen sind. So gilt die Eule in der Mythologie einerseits als Symbol der Weisheit, andererseits auch als Sinnbild für Gut <i>und</i> Böse. Setzte Goya die Eulen also als Sinnbild einer bösen Vernunft ein? Gegen die hier vorgebrachte Interpretation spricht, dass die Eulen im Mittelalter als Teufelstiere mit Zauberkräften angesehen wurden, die Eulen genauso gut auch als Gegenbild der Vernunft interpretiert werden könnten. </span> </div></div><div id="sdfootnote2" style="font-family: trebuchet ms;"><div align="JUSTIFY" class="sdfootnote"><span style="font-size: 85%;"><a class="sdfootnotesym" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote2anc" name="sdfootnote2sym">2</a>Folgende Autoren seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführt: Neben Marx, der die totalitäre Handlungs- und <i>Denk</i>form des Werts als spezifisch kapitalistische Vergesellschaftungsform beschrieben hat, ist Alfred Sohn-Rethel zu nennen, der in seinem Werk „Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaftlichen Ursprung des >reinen Verstandes<“ (1961) einen ersten Versuch einer expliziten Bestimmung dieses Zusammenhangs unternommen hat. Die meisten nachfolgenden Autoren beziehen sich auf Sohn-Rethel, kritisieren jedoch mehr oder weniger dessen Ansatz, insofern Sohn-Rethel die Konstitution des Zusammenhangs von Waren- und Denkform bereits in der Antike ansiedelt. Sohn-Rethel in diesem Punkt noch sehr nahestehend ist die Arbeit „Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“ (1977) von R.W. Müller. In dem Buch „Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens“ von Eske Bockelmann (2004) wird hingegen der Beginn des modernen Denkens erst im Zusammenhang einer historisch einzigartigen Ausbreitung der gesellschaftlichen Synthese über das Geld im 17. Jahrhundert verortet. Enger an einer kritischen Marx-Lektüre orientierte Autoren, die ebenfalls zu diesem Komplex arbeiten, sind Robert Kurz „Blutige Vernunft“ (2004) und Claus-Peter Ortlieb „Bewusstlose Objektivität“ in <i>krisis 21/22</i> (1998).</span></div></div><div id="sdfootnote3" style="font-family: trebuchet ms;"><div align="JUSTIFY" class="sdfootnote"><span style="font-size: 85%;"><a class="sdfootnotesym" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote3anc" name="sdfootnote3sym">3</a>Im Gegensatz dazu ist die intelligible Welt bei Platon, einem der wichtigsten Philosophen der Antike, alles andere als inhaltsleer. Seine Ideenwelt findet ihren mannigfaltigen Inhalt in den Formen, deren Widerschein sich für uns als Weltinhalt darstellt. Aber auch über Platon hinaus ist der Begriff des Logos in der Antike wesentlich weiter gefasst, als die moderne Kategorie der Vernunft mit ihrer strengen inhaltsleeren Formalisierung. </span> </div></div><div id="sdfootnote4" style="font-family: trebuchet ms;"><div align="JUSTIFY" class="sdfootnote"><span style="font-size: 85%;"><a class="sdfootnotesym" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote4anc" name="sdfootnote4sym">4</a>Wie stark die reale bürgerliche Welt selber auf einem Prozess der Fiktionalisierung gründet, davon kündet nicht nur das Platzen der Dotcom-Blase 2001, deren Friktionen noch durch eine Nachfolge-Blase (Immobilien) aufgefangen werden konnte. Ihr furioses Platzen stürzte 2008 die globale Ökonomie in eine massive Krise. Die gängigen Interpretationen dieser Krise verkehren Ursache und Wirkung der ökonomischen Fiktionalisierung, wenn sie den Grund der Krise in der Spekulation verorten. Denn das Potential und die Notwendigkeit zur Fiktionalisierung liegt in der Realwirtschaft selber. Ohne die spekulative Form des Reichrechnens auf der Ebene des fiktiven Kapitals hätte die notwendige Nachfrage für die globalen Überproduktionskapazitäten der Realwirtschaft gar nicht hergestellt werden können und die Krise, die in den Widersprüchen der Realwirtschaft selber gründet, wäre viel früher zum Ausbruch gekommen. </span> </div></div><div id="sdfootnote5" style="font-family: trebuchet ms;"><div align="JUSTIFY" class="sdfootnote"><span style="font-size: 85%;"><a class="sdfootnotesym" href="http://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=235110860497648185&postID=1433380634470187513#sdfootnote5anc" name="sdfootnote5sym">5</a></span><span style="font-size: 85%;">Auch wenn der Film es nicht thematisiert: Es wäre sogar vorstellbar, dass das politische System innerhalb der Matrix eine Demokratie ist, inklusive Menschenrechten und freiem Willen. Was spräche dagegen? Soweit es das Leben innerhalb der Matrix betrifft – gar nichts. Dem Zugriff des freien Willens der MatrixbewohnerInnen einzig entzogen sind ihre Leiber, von denen sie jedoch nichts wissen. Wüssten sie von ihnen und damit von der wirklichen Welt, die sich im Film als ein apokalyptisches Szenario biblischen Ausmaßes präsentiert, eine Befreiung aus den Nährlösungsbecken obläge nicht der Freiheit ihres Willens. Hier wäre natürlich die Grenze, die der freie Wille nicht überschreiten könnte. Aber gibt es diese Grenzen nicht auch in der realen Welt? Zum einen ist Begrenzung kein Ausschlusskriterium des freien Willens, denn er selbst soll sich nach Kant begrenzen, sich unterwerfen unter das Gesetz: Dem abstrakt Besonderen des freien Willens der Einzelnen steht die abstrakte Allgemeinheit des Allgemeinwillens gegenüber – institutionalisiert im Staat. Zum anderen gehört die Freiheit des Willens ehern zu einem Kategorienkanon von Arbeit, Ware, Geld, Kapital, Freiheit, Gleichheit, Recht und Staat, der das bürgerliche Universum umspannt und strukturiert - wie eine Matrix. Wenn aber die Willensfreiheit nur das bürgerliche Universum zulässt, dem Willen also eine Form von Vergesellschaft vorschreibt, welchen Wert hat dann die Freiheit des Willens, wenn sie selber zum Dogma wird?</span></div></div>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-12777391895238440722009-08-15T09:37:00.000+02:002009-08-15T09:41:33.759+02:00Zur Kritik von Dialektik, Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube<span style="text-decoration: underline;"><span style="font-weight: bold;"></span></span> <div class="entrytext"> <h3><span style="text-decoration: underline;"></span>Vorläufige Aspekte einer Kritik des historischen und dialektischen Materialismus</h3>erschienen in:<span style="font-style: italic;"> krisis 28</span><br /><p><em>Christian Höner</em></p> <p>Selten war so viel Einigkeit in der Linken. Dieser Satz klingt angesichts der Auseinandersetzung z.B. um den Antisemitismus recht seltsam. Doch bezogen auf die Aufklärung ist er richtig. Bei allem Negativen, was der Kapitalismus mit sich brachte, so die landläufige Argumentation, mit ihm kam der Fortschritt. So adelt die Linke den Kapitalismus in der Phase seines Niedergangs und spricht ihm eine historische Berechtigung zu, weil er einerseits die „Naturverfallenheit“ der Menschen aufgesprengt, andererseits überhaupt Gesellschaft und damit die Voraussetzungen für Emanzipation hergestellt hätte. Dialektik als positive Erkenntnismethode, materialistische Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube sind das lieb gewonnene Inventar linker Identität. Hier finden linke Antipoden wie antideutsche und traditionelle Linke auf je unterschiedliche Weise zueinander.<span id="more-3215"></span><br />Diesem Konsens soll ganz entschieden widersprochen werden. Methodisch konzentriere ich mich auf die wesentlichen Theoretiker, die für ein breites linkes Spektrum zumindest implizit zentrale Bezugsgrößen darstellen: Hegel, Marx, Adorno/Horkheimer. Ohne Anspruch und Möglichkeit der Vollständigkeit sollen Gemeinsamkeiten und Differenzen zum Zweck der Kritik herausgearbeitet werden.</p> <h4>Zum historischen Materialismus</h4> <p>Zunächst einmal: Es taucht meines Wissens nach im gesamten Marxschen Werk kein einziges Mal die Kategorie des historischen Materialismus (Histomat) auf. Vielmehr ist es Engels, der diesen Begriff in seiner Schrift <em>Über Historischen Materialismus</em><sup><a name="sdfootnote1anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote1sym"><sup>1</sup></a></sup> prägte. Im Arbeiterbewegungsmarxismus wurde der Histomat dann zur wissenschaftlichen Theorie der Geschichte aufgeblasen, an deren Ende bekanntlich der gesetzmäßige Sieg des Sozialismus stehen sollte. Dennoch finden sich in den Marxschen Schriften zahlreiche Darstellungen, die dem, was später als Histomat firmierte, theoretische Grundlage werden sollte. Der Referenztext des Arbeiterbewegungsmarxismus zum historischen Materialismus stammt aus dem Vorwort zur <em>Kritik der Politischen Ökonomie</em>: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dieses Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“<sup><a name="sdfootnote2anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote2sym"><sup>2</sup></a></sup><br />Die Bewegung des Histomat ist geschichtsteleologisch, demnach fortschreitend vom Niederen zum Höheren und universalistisch, denn alle bisherige Geschichte lässt sich „auf den Begriff bringen“, d.h. unter die Bewegungsform des Histomat unterordnen. Sie ist weiterhin stadienhaft und dialektisch; quantitative Veränderungen kulminieren in qualitativen. Historische Formationen laufen gesetzmäßig ab: Urkommunismus, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft, Kapitalismus, Sozialismus, bis dorthin, wo die Sonne ewig scheint: im Kommunismus. Logisch, dass sich Marx seinerzeit darüber beschwerte, dass in Deutschland der Kapitalismus zu wenig entwickelt sei und weiterhin logisch, dass Lenin das Heft selbst in die Hand nahm, um die nachholende Modernisierung in die Warengesellschaft zu exekutieren, denn die Geschichte war ja mit ihm.<br />Marx zufolge kommt den Produktivkräften eine entscheidende Rolle als Subjekt der bisherigen Geschichte zu. Sie sind der Ausgangspunkt einer deduktiven Begriffs- bzw. Logikkette. Die Produktivkräfte bestimmen das Produktionsverhältnis. Dieses wiederum formt den so genannten juristisch-politischen und geistig-kulturellen Überbau. Eine Revolution gesellschaftlicher Verhältnisse und Bewusstseinsformen nimmt demnach in der menschlichen Geschichte generell von den Produktivkräften ihren Ausgangspunkt. Die Entwicklung der Produktivkräfte schlägt sich soziologisch in Klassenkämpfen nieder. In diesem Sinn sind die populär gewordenen Sätze aus dem <em>Manifest der kommunistischen Partei</em> zu interpretieren: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“<sup><a name="sdfootnote3anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote3sym"><sup>3</sup></a></sup><br />Damit meint Marx das Bewegungsgesetz der gesamten Geschichte entdeckt zu haben und darüber hinaus das Bewegungsgesetz der Befreiung. Die Produktivkräfte erscheinen hier als eigentliches Subjekt der Geschichte. Entwickeln sich die Produktivkräfte auf ein höheres Niveau, werden die Produktionsverhältnisse zu Fesseln, die letztlich gesprengt werden. Produktivkräften wird hierbei per se unterstellt, fortschrittlich zu sein – wir haben es also mit einem Fortschrittsbegriff zu tun, der auf die Steigerung der Produktivkraft reduziert ist. Es fällt auf, dass dieser produktivkraftbezogene Fortschrittsbegriff gleich mehrfach abstrakt ist. Zum einen wird vom sinnlich-konkreten Inhalt der Produktivkräfte abgesehen, zum anderen fehlen Bezüge zu allen anderen Aspekten menschlicher Lebensäußerung, die nur noch abgeleitete Anhängsel zu sein scheinen.<br />Konträr dazu entwickelt Marx in Abgrenzung zum Idealismus und Vulgärmaterialismus (Kritik an Feuerbach in den gleichnamigen Thesen) eine Materialismusauffassung, deren Zentrum die Praxis der Menschen sein soll, in der das abstrakte Gegenüber von Bewusstsein und Materie aufgehoben ist. Was Marx in Auseinandersetzung mit Feuerbach noch allgemein als <em>menschliche Praxis</em> bestimmt, findet sich im Histomat reduziert auf die Produktivkräfte. Ist es hier die Totalität der menschlichen Praxis, die die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, so scheinen es in jenem primär die Produktivkräfte zu sein, die die menschliche Praxis bestimmen. Diese Antinomie hat Marx explizit nicht aufgelöst.</p> <h4>Der doppelte Marx</h4> <p>Auch wenn im Marxschen Werk Darstellungen überwiegen, die in Richtung des Histomat interpretierbar sind, so lassen sich dennoch widersprüchliche Aspekte finden. In dem Sassulitsch-Brief reflektiert Marx implizit den eurozentristischen Charakter des Histomat: „Bei der Analyse der Entstehung der kapitalistischen Produktion sage ich: ‚Dem kapitalistschen System liegt also die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde… Die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt…‘ Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung. Die ‚historische Unvermeidlichkeit‘ dieser Bewegung ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. (…) ‚Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist…, wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit anderer, auf Lohnarbeit gegründet ist.‘ Bei dieser Bewegung im Westen handelt es sich um die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Bei den russischen Bauern würde man im Gegenteil ihr Gemeineigentum in Privateigentum umwandeln.<br />Die im ‚Kapital‘ gegebene Analyse enthält also keinerlei Beweise – weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde, aber das Spezialstudium (…) hat mich davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands ist; damit sie aber in diesem Sinne wirken kann, müsste man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen, und ihr sodann die normalen Bedingungen einer natürlichen Entwicklung sichern.“<sup><a name="sdfootnote4anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote4sym"><sup>4</sup></a></sup> In diesen Ausführungen erteilt Marx einer teleologischen Universalgeschichte eine klare Absage. Kapitalismus erscheint hier nicht mehr als notwendige Voraussetzung einer wie auch immer gearteten Emanzipation des Menschen. Folgt man dem Gemeineigentum-Argument, so muss sogar die Notwendigkeit der warengesellschaftlichen Transformation von Westeuropa hinterfragt werden, war doch das Gemeineigentum ebenso in den feudalen westeuropäischen Agrargesellschaften relativ weit verbreitet. Hiernach hätten auch prinzipiell andere Wege einer gesellschaftlichen Entwicklung offen gestanden und damit auch andere Möglichkeiten der Emanzipation.<br />Dem Arbeiterbewegungsmarxismus musste diese Darstellung ein Dorn im Auge sein. Der mit der formationslogischen Gesetzmäßigkeit des Histomat inkompatible Ausbruch der „sozialistischen“ Revolution im feudalen Russland musste nun entsprechend in das ideologische Gebäude des Traditionsmarxismus hineingezwungen werden. Ausgerechnet der modernisierungskritische Sassulitsch-Brief wurde aus seinem Begründungszusammenhang herausgerissen, der doch die Rolle des agrikulturellen Gemeineigentums betont und in den Kontext einer nachholenden In-Wertsetzung bzw. Modernisierung auf Basis industrieller Warenproduktion gestellt. Durch die Entsorgung des modernisierungskritischen Kerns des Sassulitsch-Briefes konnte dieser als Legitimation der russischen Revolution unter Berufung auf die Marxsche Autoriät gelesen werden. Dieser ideologische Taschenspielertrick basiert freilich auf dem ältesten Missverständnis des Arbeiterbewegungsmarxismus selbst, der die Kategorie des Eigentums immer schon verkürzt gedacht hat<sup><a name="sdfootnote5anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote5sym"><sup>5</sup></a></sup><br />und umstandslos Gemeineigentum und Staatseigentum in eins setzte.<br />Dass Marx derart interpretierbar ist, liegt nicht nur an den jeweiligen zeitlichen Kontexten, sondern ist auch seinen eigenen Ambivalenzen geschuldet. So folgen die Ausführungen von Marx zur britischen Herrschaft in Indien einem gänzlich anderen Zungenschlag: „So sehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden, hineingeschleudert in ein Meer von Leiden, wie zu gleicher Zeit ihre einzelnen Mitglieder ihrer alten Kulturformen und ihrer ererbten Existenzmittel verlustig gehen, so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, dass diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, dass sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten. Wir dürfen nicht die barbarische Selbstsucht vergessen, die, an einem elenden Stückchen Land klebend, ruhig dem Untergang ganzer Reiche, der Verübung unsäglicher Grausamkeiten, der Niedermetzelung der Einwohnerschaft großer Städte zusah, ohne sich darüber mehr Gedanken zu machen als über Naturereignisse, dabei selbst jedem Angreifer, der sie auch nur eines Blickes zu würdigen geruhte, hilflos als Beute preisgegeben.<br />Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses menschenunwürdige, stagnierende Dahinvegetieren, diese passive Art zu leben, auf der andern Seite ihre Ergänzung fanden in der Beschwörung wilder, zielloser, hemmungsloser Kräfte der Zerstörung und in Hindustan selbst aus dem Mord einen religiösen Ritus machten. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, dass der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.<br />Gewiss war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewusste Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.“<sup><a name="sdfootnote6anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote6sym"><sup>6</sup></a></sup><br />Zeigt sich Marx bezüglich der russischen Dorfgemeinschaften als Kritiker der Moderne, lesen sich seine Darstellungen zu Indien modernisierungstheoretisch. Obwohl ihm offensichtlich nicht ganz wohl zu sein scheint, verfährt Marx hier nach dem Motto „Augen zu und durch“. Gilt ihm das Gemeineigentum an Boden in den russischen Dorfgemeinden als Möglichkeit einer sozialen Wiedergeburt, sind ihm die indischen Dorfgemeinschaften ein Hort der Anti-Emanzipation<sup><a name="sdfootnote7anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote7sym"><sup>7</sup></a></sup>, die es – auch wenn es den Menschen real wesentlich schlechter gehen sollte<sup><a name="sdfootnote8anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote8sym"><sup>8</sup></a></sup> – in die Geschichte „zu bomben“ gälte. Marx liefert keine theoretische Fundierung, warum nun ausgerechnet die Engländer und mit ihnen die Waren produzierenden Verhältnisse Indien im doppelten Wortsinn verwüsten mussten, damit dort irgendwann einmal Kommunismus ausbrechen könne. Dafür finden sich eine Reihe seltsamer Motive: So ist die Rede von fehlender „Größe“ und „geschichtlicher Energie“. Marx wirft den „harmlosen“ Dorfgemeinschaften vor, dass sie sich anstatt um den „Untergang ganzer Reiche“ lieber um die Bestellung ihrer Felder kümmerten.<br />In einer seiner politischen Schriften über <em>Die Revolution in China und Europa</em> redet Marx davon, dass „die barbarische hermetische Abschließung von der zivilisierten Welt“ im Rahmen des Opiumkrieges der Engländer gegen das chinesische Kaiserreich durchbrochen wurde. Die Verwendung der Begriffe <em>barbarisch</em> und <em>zivilisiert</em> verwundert auch hier. Es ist eine vollkommen willkürliche Scheidung, der jeder Maßstab fehlt. Was die Dimension der Greueltaten anbelangt, so übertreffen die <em>zivilisierten</em> bei weitem die <em>barbarischen</em>. Auch das sozial-ökonomische Elend eignet sich wohl kaum zu einer Kategorisierung von Barbarei und Zivilisation. Und zu guter Letzt ist auf der Ebene des gesellschaftlichen Fetischverhältnisses erst recht keine derartige Scheidung zu rechtfertigen.<br />Die Bürde des weißen Mannes, der den Rest der Welt in das heimholen will, was er für zivilisiert hält, war damals so gemeingefährlich wie heute. So wenig wie sich ein sinniger Grund angeben lässt, warum ausgerechnet der Warenfetisch die Bedingungen der Emanzipation gegenüber früheren Fetischformen verbessert haben soll, wenn es doch seinem Wesen entspricht, stärker als alle seine faktischen Vorgänger nach Totalität zu streben, sowenig kann davon gesprochen werden, dass das soziale Elend in Indien kurz- und langfristig verschwunden wäre. Betrachtet man die Pauperisierung, muss das Gegenteil festgestellt werden.<br />Was das stereotype, fortschrittsfetischistische Muster der Entwicklung vom Niederen zum Höheren anbelangt, so lassen sich beliebig weitere Beispiele in der abendländischen Überheblichkeit gegenüber „unzivilisierten“, „barbarischen“ „Völkern“ finden. Diese Überheblichkeit ist aber nicht auf ein individuelles Ressentiment zu reduzieren, sondern liegt in der Struktur des modernen Geschichtsverständnisses begründet. Nicht nur dieses Geschichtsverständnis ist bis heute erhalten geblieben, sondern auch die daraus resultierende Überheblichkeit erfreut sich hartnäckigster Beliebtheit. Für das kritisch-reflektierte Bewusstsein sei hier nur Hanna Arendt angeführt, für die afrikanische Stämme aufgrund ihrer Politiklosigkeit keine Menschen im eigentlichen Sinn waren: „Denn was auch immer die Menschheit an Schrecken vor wilden barbarischen Stämmen gekannt hat, das grundsätzliche Entsetzen, das den europäischen Menschen befiel, als er Neger (…) kennenlernte, hat nirgend seinesgleichen. Es ist das Grauen vor der Tatsache, dass auch dies noch Menschen sind und die diesem Grauen unmittelbar folgende Entscheidung, dass solche ‚Menschen‘ keinesfalls unseresgleichen sein durften. Wirkliche Rassen (…) scheinen auf der Erde nur in Afrika und Australien vorgekommen zu sein; sie sind bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen. (…) Was sie von den anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale (…) Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnte. (…) Das Unwirkliche liegt darin, dass sie Menschen sind und doch der dem Menschen eigenen Realität ganz und gar ermangeln. Es ist diese mit ihrer Weltlosigkeit gegebene Unwirklichkeit der Eingeborenenstämme, die zur völligen Gesetzlosigkeit in Afrika verführt hat“.<sup><a name="sdfootnote9anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote9sym"><sup>9</sup></a></sup><br />Kein Wunder, dass sich die bis ins Alltagsdenken hineingesickerte Aufklärung in Bildern vom mittelalterlichen Menschen manifestiert, der geistig-umnachtet und schlammverschmiert auf seiner Scholle hockt, nur evolutionäre Millimeter vom Einzeller entfernt. Der modernisierungskritische Marx spottet denn auch: „Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigentums und seiner entwickelten Kleinbauernwirtschaft, liefert ein viel treueres Bild des europäischen Mittelalters als unsre sämtlichen, meist von bürgerlichen Vorurteilen diktierten Geschichtsbücher. Es ist gar zu bequem, auf Kosten des Mittelalters ‚liberal‘ zu sein.“<sup><a name="sdfootnote10anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote10sym"><sup>10</sup></a></sup></p> <h4>Das Kriterium des Fortschritts</h4> <p>Wenn von Fortschritt die Rede ist, dann stellt sich die Frage des Kriteriums: Wodurch lässt sich Fortschritt bestimmen? Bei Hanna Arendt ist es offensichtlich das Herausbilden und Ausdifferenzieren einer politischen Sphäre, die den Menschen vom <em>an sich</em> zum <em>für sich</em> bringt, wobei die Natur Abstoßungspunkt bleibt. So ist das wahrscheinlich übergreifende Motiv der verschiedenen modernen Fortschrittsvorstellungen das Verhältnis Mensch–Natur bzw. Kultur–Natur. Natur figuriert dabei als feindliches und bedrohliches Reich des Chaos, gleichsam des Gesetzmäßigen und Unfreien. So gesehen geht es darum, eine größtmögliche Distanz zwischen Mensch und Natur aufzubauen, damit der Mensch nicht wieder von ihr verschlungen werde. <em>Hoch</em> und <em>Niedrig</em> gäbe dann den Grad der Befangenheit oder Unfreiheit an. Die Natur als ein dem Menschen feindliches Gegenüber zu konstruieren, mutet etwas seltsam an, bedenkt man die Tatsache, dass es doch zunächst einmal die Natur war, die den Mensch werden ließ. Das Bild vom Menschen, der in einem souveränen Akt aus der ersten Natur herausgetreten sei, ist Ideologie. Denn diese Formulierung legt bewusste Aktivität nahe, wo der Mensch als solcher noch gar nicht geworden ist. Auch das abstrakte Gegenüber von Mensch und Natur ist nicht haltbar: Der Mensch ist und bleibt denkendes und gesellschaftliches Naturwesen. Ohne in ihr aufzugehen, bleibt der Mensch in Natur befangen. Es geht ganz entschieden nicht um die Biologisierung des Sozialen, sondern nur um die schlichte Feststellung, dass der Mensch Bestandteil der Natur und die Natur Bestandteil des Menschen ist. In der ökologischen Krise drückt sich diese Befangenheit aus, die es gerade anzuerkennen gilt und nicht zu negieren. Problematisch wird die Anerkennung des Befangensein in der Natur erst, wenn sie – wie in der Romantik – als abgespaltene und damit bereits zugerichtete hypostasiert wird. Die Angst vor der Natur und ihre romantische Affirmation korrespondieren insofern miteinander, als sie die ideologischen Affekte der modernen Dichotomie Mensch–Natur darstellen, in der sich Mensch und Natur abstrakt einander gegenüber stehen. Der Histomat knüpft nun an dieses dichotomische Mensch–Natur–Verhältnis an, wenn die Produktivkräfte das Vermögen angeben, Distanzen zwischen Mensch und Natur durch deren Umformung aufzubauen.<br />Und was sagt die <em>frühe</em> Wertkritik, die gerade im Begriff war, den maroden theoretischen Korpus des Arbeiterbewegungsmarxismus zu verlassen? „Wir halten in schroffem Gegensatz zur grün-alternativen Produktivkraftkritik daran fest, dass der Kapitalismus trotz aller Greuel seiner Entwicklungsgeschichte einen ungeheuren Fortschritt aller vorindustriellen Gesellschaft und deren heute unvorstellbar rohen Formen und Lebensstandards gegenüber bedeutet hat. Das ,automatische Subjekt‘ des Werts war einmal bitter nötig, um die Produktivkräfte und die Vergesellschaftung über die Zustände des Grundeigentums und der Blutsverwandtschaft hinauszuführen, unter denen die große Masse der Menschen nicht viel besser lebte als Haustiere.“<sup><a name="sdfootnote11anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote11sym"><sup>11</sup></a></sup> „Diese Momente abstrakter, indirekter Vergesellschaftung (gemeint ist die Warengesellschaft; C.H.) aber bilden einen <em>ungeheuren Fortschritt</em> gegenüber aller vorherigen Gesellschaftlichkeit, die über Grundeigentum und Blutsverwandtschaft als Produktionsverhältnis <em>noch unmittelbar naturverhaftet</em> war und in der die physische Gewalt noch als unmittelbare Verkehrsform der sozialen Beziehungen auftrat.“ (Hervorhebungen C.H.)<sup><a name="sdfootnote12anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote12sym"><sup>12</sup></a></sup> Auch Franz Schandl schlägt in seinem frühen Artikel „Geschichte als Fortschritt“ Folgendes vor: „Maß des Fortschritts ist die Herstellung eines vergleichbaren qualitativen Produktes in einem kürzeren Zeitquantum. Dies ist auch die quantitative (aber eben nicht qualitative!) Vorbedingung jedweden gesellschaftlichen Reichtums.“<sup><a name="sdfootnote13anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote13sym"><sup>13</sup></a></sup><br />Warum aber soll Fortschritt gerade auf das Maß reduziert werden, dass die Größe des Wertes darstellt? Warum überhaupt ein absolutes Maß? Das einzige Absolute, was mir dazu einfiele, wäre negativ: Die Überwindung fetischisierter Gesellschaftlichkeit. Dann hat es bisher gar keinen Fortschritt gegeben. Will Wertkritik darüber hinaus am Fortschrittsbegriff festhalten, so müsste neben dem absoluten Kriterium ein relatives entwickelt werden. Relativer Fortschritt wäre dann jeweils zu beziehen auf die mögliche Verbesserung der Lebenspraxis und damit der verschiedensten einander durchdringenden Lebensäußerungen des Menschen. Was sich aber Menschen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung unter einer Verbesserung ihrer Lebensumstände vorstellten, ist nur aus ihren konkreten Bezügen heraus zu beantworten. Fortschritt wäre demzufolge aber nicht auf das Glück der größtmöglichen Zahl an Produkten und des geringsten Zeitmaßes ihrer Herstellung zu reduzieren. Dies wäre doch nichts weiter als die schlechte Utopie der Warengesellschaft, in der die Menschen nur noch konsumierende Anhängsel eines vollautomatisierten Maschinenaggregates und Freizeitidioten als Charaktermasken sein Ergebnis wären.<br />Das Motiv vom <em>Niederen</em> zum <em>Höheren</em> geistert selbst noch in den fortschrittskritischen Aufsätzen herum: „Angesichts der mit dem Kollaps der Wertlogik einsetzenden anomischen Prozesse muss für uns Nachgeborene Emanzipation vor allem die Verteidigung des erreichten Vergesellschaftungsniveaus zum Inhalt haben. Die Suche nach Formen alternativer Vergesellschaftung jenseits von Ware und Staat schöpft ihre Legitimation daraus, dass die Herrschaft der Form mit dem von der Produktivkraftentwicklung gesetzten Vernetzungsniveau unvereinbar geworden ist. Bei den Altvorderen finden wir hingegen genau die umgekehrte Beziehung. Der form-inkompatible Widerstand richtete sich damals gerade gegen die mit der kapitalistischen Logik zusammenfallende Vergesellschaftungsdynamik und blieb in der letztlich rückwärts gewandten Vorstellung einer ‚moral economy‘ (Edward Thompson) gefangen. Nur dieser Zusammenhang erklärt denn auch das restlose Verschwinden dieser Ansätze. Wenn sie sukzessive an Bedeutung verloren, um schließlich vollends der Dampfwalze der warenförmigen Modernisierung zum Opfer zu fallen, dann nur deshalb, weil ein wesentlich von der Rückerinnerung an vorkapitalistische Formen von Gemeinschaft getragener Widerstand nicht in der Lage war, Konzepte alternativer Gesellschaftlichkeit hervorzubringen, die der blinden kapitalistischen Vergesellschaftungsdynamik ebenbürtig gewesen wären.“<sup><a name="sdfootnote14anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote14sym"><sup>14</sup></a></sup> Implizit macht Ernst Lohoff den Telos eines hohen Vergesellschaftungsniveaus auf. Gemeint ist eine durch die Produktivkraftentwicklung erzielte hohe bzw. komplexe Vernetzung. In gewisser Weise wird hier argumentiert, wie Marx dies im Zusammenhang mit den indischen Gemeinden tat. Denn wäre die vormoderne „moral economy“ schon damals auf ein hohes Vernetzungs- bzw. Vergesellschaftungsniveau orientiert gewesen, hätte sie sich gegen die hereinbrechende Warengesellschaft durchsetzen können. Dass sie der „blinden kapitalistischen Vergesellschaftungsdynamik (nicht) ebenbürtig“ war, machte sie anachronistisch und deshalb verschwand sie unweigerlich auf dem Weg zur „Bestimmung der Menschheit“ eines hoch vernetzten Zusammenhangs.<br />Grundsätzlich bleibt dagegen einzuwenden, dass das Vernetzungs- und Vergesellschaftungsniveau selbst wiederum nur eine abstrakte Bestimmung ist. Welchen Grad der Komplexität gesellschaftlicher Vernetzung eine emanzipierte postkapitalistische Gesellschaft entwickeln wird, ist nicht per se ausgemacht. Das <em>Höher, Schneller, Weiter</em> wird sich einer Vielzahl sinnlicher, stofflicher und sozialer Kriterien beugen müssen. So wird zu prüfen sein, ob die momentan hohe stoffliche Vernetzung, die sich über den gesamten Planeten spannt, sinnvoll und aufrecht zu erhalten ist. So wird auch das Produkt gegen den stofflichen und sozialen Aufwand seiner Herstellung diskutiert werden müssen. Damit soll nicht gesagt sein, dass nur noch das realisiert werden soll, was in der unmittelbaren Reichweite der jeweiligen Individuuen liegt, aber sehr wohl, dass der Maßstab einer hohen Vergesellschaftung kein absoluter ist.<br />Und ob die „moral economy“ an ihrem Untergang selbst Schuld war, darf bezweifelt werden. Denn es war ja nicht einfach das höhere Vergesellschaftungsniveau der Waren produzierenden Moderne an sich, das ihr das Rückgrat brach, sondern deren gewaltförmiger Inhalt. Wenn es aber Bedingung der Emanzipation sein soll, mit den hochtechnologischen Destruktivkräften der modernen Fetischformation Schritt zu halten, dann verringern sich die ohnehin geringen Chancen eines Durchbrechens der „zweiten Natur“ rapide gegen null.</p> <h4>Feuerwaffeninnovation als Destruktivkraftrevolution</h4> <p>Gegen den Histomat als ein Epoche übergreifendes Prinzip spricht schon die Untersuchung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Marx selbst liefert implizit Material für ein anderes Geschichtsverständnis als das des Histomat, wenn er mit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals im England des 16. Jahrhunderts darstellt, dass der reale Transformationsprozess kein quasi-naturwüchsiges Heranreifen einer bürgerlichen Sphäre innerhalb eines feudalgesellschaftlichen Korsetts war<sup><a name="sdfootnote15anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote15sym"><sup>15</sup></a></sup> , sondern ein hausgemachter gewaltvoller Bruch der Moderne selbst, der in die „Annalen der Menschheit eingeschrieben (wurde) mit Zügen von Blut und Feuer“<sup><a name="sdfootnote16anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote16sym"><sup>16</sup></a></sup>. Dieser Bruch war natürlich nicht voraussetzungslos. Was aber nicht aus- bzw. durchbrach, war eine beide historische Formationen übergreifende Widerspruchslogik, nach der auf der Checkliste der Geschichte nun die Warengesellschaft an der Reihe war.<br />Das England vor der ursprünglichen Akkumulation, welches Marx beschreibt, war vornehmlich eine Agrargesellschaft mit einem Lebensstandard, der überhaupt nicht ins Bild der Aufklärungsideologen passt: „In England war die Leibeigenschaft im letzten Teil des 14. Jahrhunderts faktisch verschwunden. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigentum immer versteckt sein mochte.“<sup><a name="sdfootnote17anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote17sym"><sup>17</sup></a></sup> „Die kleinen Grundeigentümer, die ihre eigenen Felder mit eigner Hand bebauten und eines bescheidenen Wohlstands sich erfreuten, (…) bildeten damals einen weit wichtigeren Teil der Nation als jetzt (…)“<sup><a name="sdfootnote18anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote18sym"><sup>18</sup></a></sup> „Solche Verhältnisse, bei gleichzeitiger Blüte des Städtewesens, wie sie das 15. Jahrhundert auszeichnet, erlaubten jenen Volksreichtum, (…), aber sie schlossen den Kapitalreichtum aus.“<sup><a name="sdfootnote19anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote19sym"><sup>19</sup></a></sup><br />Der Tausch als Modus gesellschaftlicher Vermittlung und des Stoffwechselprozesses des Menschen mit der Natur war randständig und selbst in den Städten durch Zunftsysteme stark gebändigt.<sup><a name="sdfootnote20anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote20sym"><sup>20</sup></a></sup> Andere Fetischformen strukturierten die gesellschaftliche Vermittlung und waren als solche mitnichten frei von Zumutungen und Leid. Die vormoderne fetischisierten, personalen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse unterscheiden sich aber wesentlich vom modernen Warenfetischismus. In vormodernen Fetischverhältnissen existierte keine als Sphäre ausdifferenzierte Ökonomie und die produktiven Tätigkeiten waren unentwirrbar in den verschiedenen Lebenäußerungen eingebunden. Die gesellschaftliche Vermittlung stellte sich über personale Fetische als irdische Repräsentanten göttlicher Macht her. Die Moderne vertrieb nun Gott bzw. erklärte ihn zur Privatsache des Staatsbürgers, aber der Fetischismus verschwand nicht, sondern „fuhr“ in die produktiven Tätigkeiten und deren Produkte, die nun den gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang vergegenständlichen. Der vormoderne, in Personen inkorporierte Fetischismus transformierte sich in einen objektiven. Deshalb nimmt die gesellschaftliche Bewegung der Moderne die Form von objektiven Gesetzen an, die als solche nur in ihr wirken. So lässt sich vom Standpunkt der mittelalterlichen Gesellschaften aus überhaupt kein objektiver, gesetzesförmiger Widerspruchsprozess ableiten, der <em>zwangsläufig</em> zur Herausbildung der über den Wert vermittelten Warengesellschaft führen musste. Erst in der Warengesellschaft, in der sich die gesellschaftliche Fetischvermittlung der Produktionssphäre bemächtigt, können die Produktivkräfte als das gesellschaftliche Agens erscheinen. Zwar gab es eine Entwicklung der Produktivkräfte im Mittelalter (hauptsächlich im Agrarbereich)<sup><a name="sdfootnote21anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote21sym"><sup>21</sup></a></sup>, aber diese Produktivkraftentwicklung trieb nicht gesetzesmäßig über die mittelalterlichen Verhältnisse hinaus oder gar in die Waren produzierenden hinein. Die mittelalterlichen Produktivkräfte waren ihrem technischen Inhalt als auch ihrer gesellschaftlichen Form nach dem Kapital nicht adäquat. Das Kapital übernahm die vorgefundenen Produktivkräfte, so wie sie das Mittelalter entwickelt hatte. Nach dieser formellen Subsumierung erfolgte die inhaltliche Durchdringung der Produktivkräfte und ihre permanente, selbstzweckhafte Revolutionierung.<br />Als Bedingung der Möglichkeit für die Herausbildung der Warengesellschaft spielten nicht Produktivkräfte in einem euphemistischen Sinn eine wichtige Rolle, sondern solche, die ihrem sinnlich-konkreten Zweck nach als Destruktivkräfte wirkten. Die Rede ist von der Feuerwaffeninnovation. Über die Erfindung und Anwendung der Feuerwaffen vermittelte sich ein Prozess der Nationalstaatsbildung (Absolutismus), der die erforderlichen gesellschaftlichen Kapazitäten bündelte und eine flächendeckende Geldwirtschaft zum Aufbau von Militärapparaten durchsetzte (Merkantilismus).<br />Dass dieser Prozess nicht zwangsläufig war, zeigt ein vergleichender Blick auf die asiatischen Reiche, in denen die Feuerwaffe bekannt war, aber nicht weiter entwickelt oder wie in Japan bewusst abgeschafft wurde. Die Rolle der Produktivkräfte respektive Destruktivkräfte muss also als notwendige aber nicht hinreichende Vorbedingung des <em>take off</em> der Warengesellschaft betrachtet werden. Es mussten noch eine Reihe weiterer begünstigender negativer Faktoren hinzutreten. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle des asketischen Protestantismus, der den modernen Arbeitsethos mit seiner innerweltlichen Askese vorwegnahm. Eine weitere wichtige Voraussetzung war natürlich die nachhaltige gewaltsame Trennung der Menschen von ihren (Re)Produktionsmitteln, wie Marx anschaulich in <em>Die so genannte ursprüngliche Akkumulation</em> darlegt.<br />Es lässt sich also zeigen, wie vermittelt über die Feuerwaffeninnovation ein Prozess losgetreten wurde, der die alten europäischen Agrargesellschaften zersetzte, für mehrere Jahrhunderte die Lebensbedingungen ganzer Generationen verschlechtern und letztlich in die ‚wunderbare‘ Welt der Weltwarengesellschaft münden sollte.<sup><a name="sdfootnote22anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote22sym"><sup>22</sup></a></sup> Dieser Prozess war geprägt von gewaltsamen Brüchen und Kämpfen, die prinzipiell offen waren und durchaus anders hätten ausgehen können. Rückblickend können wir den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus <em>nur</em> als einen <em>historischen</em> Prozess rekonstruieren.<br />Wenn aber nach dem Verständnis des historischen Materialismus überhistorische Gesetzmäßigkeiten die Transformation von der feudalen zur Waren produzierenden Gesellschaft bestimmten, dann müsste dieser <em>historische</em> Prozess <em>logisch</em> darstellbar sein. Vielfach sind die Marxschen Darstellungen in den ersten Kapiteln des <em>Kapitals</em> dahingehend fehlinterpretiert worden, als würden sich seine Ausführungen über die innere Logik der Ware und deren Entfaltung zum Geld auf einen realen historischen Prozess beziehen. Zum einen hätte diese Annahme zur Folge, dass es tatsächlich eine vormoderne Gesellschaft gegeben haben müsste, die sich als einfache Warenproduktion treffend charakterisieren ließe. Dies ist zweifellos nicht der Fall, da sich die Warenproduktion erst zur allgemeinen und universellen Produktionsform entwickelt, wenn sich auch die unmittelbaren Produzenten in Besitzer der Ware Arbeitskraft verwandelt haben. Dies trifft aber auf vormoderne Gesellschaften nicht zu. Andererseits lag es überhaupt nicht in der Intention von Marx, eine formationsübergreifende Geschichte des Abendlandes aus der Logik der Warenform zu entwickeln. Vielmehr ging es ihm darum, die logischen Bedingungen der Warengesellschaft zu entfalten.<sup><a name="sdfootnote23anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote23sym"><sup>23</sup></a></sup><br />Wieder tauchen die Antinomien des doppelten Marx auf, wenn er einerseits die Logik der Warenform kritisch historisieren will, andererseits die Produktivkräfte zum positiven, überhistorischen Subjekt aller menschlicher Geschichte erhebt und damit bekanntlich Hegels Weltgeist vom Kopf auf die Füße stellt.</p> <h4>Hegels Weltgeist im Schnelldurchlauf</h4> <p>Für Hegel ist Geschichte die des Weltgeistes, der am Anfang der Zeit<em> an sich</em> schon da war, quasi schlafend. Um zu erwachen, muss er erst zu sich kommen, um <em>für sich</em> zu sein und dieser Prozess des Erwachens, das ist die Geschichte. „Diese Bewegung ist der Weg der Befreiung der geistigen Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt, der nur erst an sich seiende Geist sich zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines an und für sich seienden Wesens bringt und sich auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird. Indem diese Entwicklung in der Zeit und im Dasein und damit als Geschichte ist, sind deren einzelne Momente und Stufen die Völkergeister; jeder als einzelner und natürlicher in einer qualitativen Bestimmtheit ist nur eine Stufe auszufüllen und nur ein Geschäft der ganzen Tat zu vollbringen bestimmt.“<sup><a name="sdfootnote24anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote24sym"><sup>24</sup></a></sup> Nach Hegel wirft sich der Weltgeist in die Welt, drückt sich in ihrer materiellen Natur und durch sie hindurch aus, formt dabei diese nach seinem Bilde und kommt dann in der vernünftig eingerichteten Welt – bei Hegel nicht IKEA, sondern der preußische Staat – und sich selbst reflektierend im Hirn des Philosophen zu sich – in dem Fall ganz bescheiden Hegel selbst.</p> <h4>Die historische Berechtigung der Dialektik</h4> <p>Wenn dem Histomat eine Berechtigung zusteht, dann nur für den Binnenraum der Geschichte der Warengesellschaft selbst. Auf ideeller Ebene nimmt nämlich Hegel mit Weltgeist und Dialektik das affirmativ vorweg, was Marx kritisch auf den Begriff des <em>automatischen Subjekts</em> bzw. <em>Kapitals</em> bringt. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit und nur im Rahmen der Waren produzierenden Formation ist mit dem Kapital eine <em>dialektische Bewegung</em> der Gesellschaft gesetzt, die ständig ihre eigenen, immanenten Widersprüche produziert, und von diesen durch die Geschichte quasi gesetzesmäßig voran und in den Abgrund getrieben wird.<br />Die gerade in der Linken viel gepriesene Dialektik ist als Denkbewegung nur der ideelle Ausdruck des Kapitals – verstanden als die Bewegung der Realabstraktion des Werts. Im Gegensatz zu vormodernen Fetischformen, die anderen Entwicklungsmodi folgten, produziert der auf sich selbst rückgekoppelte Wert ständig und auf immer höherer Stufenleiter ein Natur- und Gesellschaftsverhältnis, das in dichotomische Gegensatzpaare zerfällt, die sich einerseits bedingen, andererseits gegenseitig negieren. Diese Gegensatzpaare sind Treibsätze, die den warengesellschaftlichen Abschnitt der Vorgeschichte (Marx) gesetzesförmig vor sich herpeitschen. Der Wert als Kapital vollführt dabei gleich der Bewegungsform des Hegelschen Weltgeistes eine ständige Bewegung vom <em>an sich</em> zum <em>für sich</em>. Der Wert als qualitätsloses Nichts oder leere Form entäußert sich in die Welt, die nicht mehr für ihn ist als das Material seines Ausdrucks, nur Objekt in dem und durch das er sich hindurch darstellen kann. Aber er verschwindet nicht im Prozess der Entäußerung, sondern kommt immer wieder zu sich zurück (G-W-G’). Die Bewegung beginnt von Neuem und in ihrer steten und expansiven Wiederholung modelt der Wert eine Welt nach seinem Bild. Wenn der Wert als Abstraktion real wird, kann dies nur als ein Prozess der Vernichtung gedacht werden, als Vernichtung von Welt. Der diesbezügliche Stand der Destruktion ist global auf sozialer und ökologischer Ebene erkennbar weit vorangeschritten.<br />Dass Marx im <em>Kapital</em> passagenweise und ganz deutlich im <em>Manifest</em> den destruktiven Automatismus des Werts in einen emanzipatorischen umbiegt, um Wind in die Segel der Arbeiterklasse auf ihrer historischen Mission zu blasen, ist auf theoretischer Ebene nicht zu halten. Warum soll ausgerechnet das durch den Wert konstituierte <em>Interesse Arbeit</em> über die Warengesellschaft emanzipatorisch hinausweisen? Die wertkonstituierte Charaktermaske Arbeit hat an sich nur Interessen, die wertförmig sind. Da gibt es kein <em>an sich</em>, was darüber hinaus will. Kommt es zu sich, heißt es: „Wir sind das Kapital“. Dieser Satz ist wahr im Munde der Ware Arbeitskraft – wenn auch unkritisch gemeint.<br />Die historische Berechtigung des Histomat erschließt sich nur, wenn wir mit Marx gegen Marx argumentieren, d.h. wenn wir seine geschichtsphilosophischen Darstellungen vor dem Hintergrund seiner Fetischkritik einer neuen Bestimmung unterziehen. Marx sagt im Fetischkapitel des <em>Kapital</em>: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“<sup><a name="sdfootnote25anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote25sym"><sup>25</sup></a></sup> Der Wert ist also nichts weiter als ein unbewusstes gesellschaftliches Verhältnis, das die verrückte Form annimmt, ,Eigenschaft‘ einer Sache zu sein. Damit erhalten die Produkte der menschlichen Hand einen über ihre sinnliche Natur hinausgehenden übersinnlichen, quasi-metaphysischen Charakter. Im Kapital macht sich der Wert autonom und reißt den gesellschaftlichen Kontext in seine dialektische Entäußerungsbewegung, die doch immer wieder zu ihm führt, um den Prozess der Entäußerung auf höherer Stufenleiter zu wiederholen usw. Erst die dialektische Bewegung des quasi-metaphysischen Werts als Kapital durchdringt und formt die stoffliche Natur der Produktivkräfte zum Selbstzweck ihrer permanenten Revolutionierung.<br />Der ganze stoffliche Pathos, mit dem sich der traditionelle linke Materialismus spreizte, verflüchtigt sich. Was ihm das reale Leben war, ist nichts weiter als der stofflich Ausdruck einer real-metaphysischen Bewegung, die der alle Sinnlichkeit negierende Wert setzt. Der Histomat ist nur der positive ideologische Ausdruck der realen Metaphysik des Werts, der im unbewussten gesellschaftlichen Verhältnis der Menschen selbst gründet. „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“. „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“<sup><a name="sdfootnote26anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote26sym"><sup>26</sup></a></sup> Ernst Lohoff bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im Histomat werden aber diese spezifischen Verhältnisse, die ausschließlich die bürgerliche Gesellschaft charakterisieren und auch nur sobald sie sich bereits auf ihrer eigenen Grundlage bewegt, auf die gesamte Geschichte projiziert. Nur auf dem Boden der Warengesellschaft existiert der Zwang, die Produktivkräfte permanent zu revolutionieren. Nur im Rahmen der Binnenentwicklung der Warengesellschaft werden gesellschaftliche Verhältnisse permanent umgewälzt, wenn sie dem Produktivismusdiktat nicht Genüge tun. Nur in der Warengesellschaft beschreibt das Basis-Überbau-Schema, die Annahme, das Ökonomische sei das Bestimmende, etwas Richtiges.“<sup><a name="sdfootnote27anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote27sym"><sup>27</sup></a></sup> Georg Lukács, der bei weitem nicht als Kritiker des Histomat gelten kann, kommt zu einem ähnlichen Schluss: „In den vorkapitalistischen Gesellschaften hat es jene Selbständigkeit, jenes Sich-selbst-als-Ziel-Setzen, jene Insichgeschlossenheit und Selbstherrlichkeit, jene Immanenz des wirtschaftlichen Lebens, wie es in der kapitalistischen Gesellschaft erreicht worden ist, noch nicht gegeben. Daraus folgt, dass der historische Materialismus auf die vorkapitalistischen sozialen Gebilde nicht ganz in derselben Weise angewendet werden kann, wie auf die der kapitalistischen Entwicklung. Hier bedarf es viel verwickelterer, viel feinerer Analysen, um einerseits aufzuzeigen, welche Rolle unter den die Gesellschaft bewegenden Kräften die <em>rein</em> wirtschaftlichen Kräfte, soweit es solche im strengen Sinne der „Reinheit“ damals überhaupt gab, gespielt haben, andererseits um nachzuweisen, wie diese wirtschaftlichen Kräfte hier auf die übrigen Gebilde der Gesellschaft einwirkten.“<sup><a name="sdfootnote28anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote28sym"><sup>28</sup></a></sup> Der Grund einer relativen Berechtigung des historischen Materialismus, den Lukács in seinem Werk noch positiv zu wenden sucht, liegt aber in der spezifischen Fetischkonstitution der Warengesellschaft, die die moderne Fortschrittsteleologie desavouiert. „Mit der Einführung des Fetischismusbegriffs und den der Vorgeschichte ist Marx, zumindest tendenziell, jenseits der Fortschrittsteleologie angelangt. Wer die gesamte bisherige Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen fasst, der muss keine Hierarchie zwischen den verschiedenen Fetischverhältnissen aufmachen. Marx hat dieses Problem nicht weiter entwickelt. Sein Rekurs auf den Fetischbegriff hat auf der geschichtsphilosophischen Ebene nur die Konnotation, schaut her, ihr fühlt euch den ‚primitiven Afrikanern‘ überlegen und habt doch nur einen Fetisch gegen einen anderen ausgetauscht. Dabei bleibt er stehen. Man könnte das aber auch systematisieren und gegen den Fortschrittsoptimismus insgesamt mobilisieren.“<sup><a name="sdfootnote29anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote29sym"><sup>29</sup></a></sup></p> <h4>Die all- und ohnmächtige Dialektik</h4> <p>Theorie im neuzeitlichen Sinn drängt danach, die Welt begrifflich total in sich aufzulösen. Darin ist sie vermessen. Aber schon die Natur geht nicht auf in der Logik von Gesetzen, sie ist nie identisch mit dem Begriff, den wir von ihr haben. Dies zu konstatieren, macht radikale Gesellschaftskritik als Theorie aber nicht hinfällig im Sinne eines Verbotes von universellen Erzählungen, wie die Postmoderne postuliert. Denn mit dem Wert ist ein Prozess der Realabstraktion angesprochen, eine Reallogik und Realmetaphysik, die in ihrer wesensmäßigen Reinheit auf begrifflicher Ebene tatsächlich ihre Entsprechung in der inhaltlosen Leere des Werts findet. „Mit der Kategorie der Ware hat Marx nicht nur den genauen Gegenstand der Dialektik in der historischen Formbestimmung der Warenproduktion herausgestellt, sondern ebenso die Dialektik selbst bestimmt. (…) Der Begriff wird dem Gegenstand adäquat, indem dieser – vorläufig noch die naturhaft ablaufenden bürgerlichen Zusammenhänge – bewusst reflektiert wird. In dieser Weise hat die Methode keinen Anspruch auf übergeschichtliche Gültigkeit (…). Die Übereinstimmung des Begriffs mit seinem Gegenstand impliziert – gemäß der Historizität dieses Gegenstandes, der kapitalistischen Gesellschaft – die Historizität des Begriffs, der Methode selbst. Deshalb muss die Marxsche Dialektik in einem doppelten Sinne als Kritik verstanden werden: Nicht als Gegensatz von wahr und falsch, was eine statische Wahrheit und einen begrifflichen Standpunkt außerhalb des Gegenstandes impliziert, sondern als eine immanente kritische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Entwicklung, ihren Widersprüchen und Negationsformen – als Geschichte der kapitalistischen Entwicklung (…)“.<sup><a name="sdfootnote30anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote30sym"><sup>30</sup></a></sup> Mit Postone ist die Dialektik gegenüber einer postmodernen Kritik zu rehabilitieren. Sie ist zu bestimmen als adäquate historische Denkform, die die reale dialektische Bewegung des Werts einzufangen vermag. Die Dialektik ist in der Warengesellschaft gültig, aber nur in ihr.<br />Die Deckungsgleichheit von Realabstraktionsprozess und begrifflicher Abstraktion ist aber nicht nur gegenüber Histomat, Hegelschem Weltgeist und der Negativen Dialektik Adornos zu historisieren. Wird Dialektik als ideeller Ausdruck der Bewegung des Werts gefasst, kann es nicht mehr darum gehen, Welt und Geschichte begreif- und handhabbar in die Tasche zu stecken. Vielmehr muss diese Dialektik in dem Wissen, dass Begriff/Realabstraktion und Welt nur in Gewalt zueinander finden, mit sich gegen sich denken. Dialektik kann also nicht einfach positiv als Methode und Mittel der Kritik betrachtet werden, sondern muss selbst Gegenstand der Kritik sein.</p> <h4>Der falsche Telos einer funktionierenden negativen Totalität</h4> <p>Zur Kritik steht das Prinzip des Identischen, die Reduzierung der mannigfaltigen empirischen Qualitäten der Welt auf ein Prinzip. Dieses Prinzip ist aber die Dialektik. Ob nun positiv oder negativ, in ihrem Universalismus sind sich Hegel, Histomat-Marx und Adorno/Horkheimer gleich. Letztere sahen zwar die Existenz des Nicht-Identischen, welches sie in Kunst und Subjekt auszumachen glaubten, nahmen aber an, dass dieses Nicht-Identische am Erlöschen sei. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit“<sup><a name="sdfootnote31anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote31sym"><sup>31</sup></a></sup>, heißt es in der <em>Dialektik der Aufklärung</em>. In Anbetracht ihrer Erfahrungen mit Faschismus, Stalinismus und den totalitären Massendemokratien ist die Einschätzung, alle Hoffnungen auf widerständige Momente und Emanzipation seien kontrafaktisch im Angesicht des endgültigen Triumpfes der negativen Totalität von Barbarei und Herrschaft, durchaus nachvollziehbar. Theoretisch korrepondierte dieser Pessimismus allerdings mit der Fehleinschätzung, dass das mit dem Markt assoziierte Wertgesetz durch das vermeintliche Primat der Politik aufgehoben und damit jeder struktureller Widerspruch sistiert sei.<sup><a name="sdfootnote32anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote32sym"><sup>32</sup></a></sup><br />Der Wert als „Identifikationsprinzip“ kann sich aber nicht in einen Zustand funktionierender negativer Totalität auflösen. Adorno liefert selbst mit seinem Begriff des Nicht-Identischen einen anderen Zugang zum Universalismus des Werts, indem er auf das von ihm Abgespaltene (Scholz)<sup><a name="sdfootnote33anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote33sym"><sup>30</sup></a></sup> verweist. Der Wert ist ohne seine abgespaltenen Momente nicht denkbar. Das durch die formelle Vernunft zugerichtete Subjekt muss seine Sinnlichkeit und Emotionalität domestizieren und abspalten, wobei Vernunft und Sinnlichkeit als Abstrakte überhaupt erst konstituiert werden. Dieses abstrakte Gegenüber fand anknüpfend an vormoderne patriachale Verhältnisse eine geschlechtsspezifische Zuordnung, wobei der Wert als <em>männliches Prinzip</em> figuriert. So konstituiert das Wert-Universum sein eigenes als weiblich konstruiertes Schattenreich. Wert und Abspaltung sind dabei zwar auf derselben Abstraktions- und Konstitutionsebene angesiedelt, stehen jedoch zueinander in einem unterschiedlichen Verhältnis, insofern der Wert dominiert und das Abgespaltene als Sekundäres <em>erscheint</em>. Nicht umsonst bleibt die Sphäre der Reproduktion im Marxschen <em>Kapital</em> als vermeintlich vorgesellschaftlicher Raum vollkommen unerwähnt und nicht umsonst ist das moderne Fortschritts- und Geschichtsverständnis als männliches zu charakterisieren, obwohl es doch die Doppelstruktur von Wert/Abgespaltenem ist, die sich zunehmend totalisiert. Doch selbst diese Wert-, Abspaltungsstruktur kann nicht als totale gedacht werden. Sie ist zwar ein sich totalisierendes Prinzip, aber das ist nicht zu verwechseln mit der Totalität selbst. Es bleibt sozusagen etwas übrig, ein Rest, der in dieser Doppelstruktur nicht aufgeht. So wird Wert- und Wertabspaltungskritik in dem Sinne bescheiden, weil es ihr nicht mehr um die Erklärung irgendeiner <em>Totalität</em> geht. Ihr alleiniger Gegenstand ist die Kritik des <em>sich totalisierenden Prinzips</em> von Wert und Wertabspaltung. Das ist ein Unterschied.</p> <h4>Negativer Fortschrittsglaube</h4> <p>Auch wenn Adorno/Horkheimer einen widersprüchlichen Grenzfall darstellen, auch sie bleiben weithin in der Denkstruktur von Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube befangen, allerdings beides versehen mit einem negativen Vorzeichen. Hier heißt das Ziel der Menschengeschichte „Verhängnis“ und der Fortschritt ist dann eben ein negativer. Mit der misslungenen Ablösung von der ersten Natur in grauer Vorzeit habe sich das Dilemma der Herausbildung einer zweiten Natur<sup><a name="sdfootnote34anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote34sym"><sup>34</sup></a></sup> (Marx) ergeben. Je weiter der Prozess der Loslösung von der ersten Natur voranschritt, desto mehr habe sich das Geschick der Menschen in der zweiten Natur verfangen: „Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der zukünftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.“<sup><a name="sdfootnote35anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote35sym"><sup>35</sup></a></sup><br />Ganz ähnlich wird da argumentiert wie in Stanley Kubricks legendärem Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Hier gibt es die berühmte Menschwerdungsszene, in der ein Affe durch die Entdeckung und Anwendung eines knochenförmigen Mordwerkzeuges zum Menschen wird. Im Triumph seiner Entdeckung schleudert er den Knochen in den Himmel und in einer atemberaubenden Überblendung zu einem dem Knochen ähnlichen Raumschiff werden zig-tausend Jahre Menschheitsgeschichte übersprungen. Und weil alles beim Alten bleibt, entpuppt sich diese Technik als mörderisch in Form des heimtückischen Computers HAL 9000. Ein äußerst kulturpessimistischer Entwurf, der den ausweglosen Zusammenhang von Gewalt und Technik behauptet. Einziger und unverstandener Ausweg scheint die Berührung mit einer gottähnlichen außerirdischen Intelligenz zu sein.<br />Analog zeichnen Adorno/Horkheimer in der <em>Dialektik der Aufklärung</em> das Verhängnis nach, was an sich schon mit der Menschwerdung seinen Anfang nahm und in den totalitären, kulturindustriellen Massengesellschaften zu sich kommt. In dem wichtigen Anliegen, den Zusammenhang von „Aufklärung und Herrschaft“ zu kritisieren, den sie im Nationalsozialismus, im Staatstotalitarismus und in der kulturindustriellen Massengesellschaft ausmachen, greifen sie aber merkwürdigerweise an zentraler Stelle auf die Odysseus-Parabel zurück, die – originell, aber klassensoziologisch verkürzt – einen unerwartet großen Bogen spannt. Demnach ist das Dilemma der Aufklärung ursächlich nicht in ihrer eigenen Epoche zu suchen, sondern weit vor ihr: mit Odysseus bei den alten Griechen, aber eigentlich schon in grauer Vorzeit. Der verhängnisvolle Lauf der Dinge hat die Naturverfallenheit zur zentralen Figur. Als ein Beispiel hierfür kann die Sirenen-Episode aus der Dialektik der Aufklärung gelten. „Er (Odysseus) macht sich ganz klein, das Schiff nimmt seinen vorbestimmten, fatalen Kurs und er realisiert, dass er, wie sehr auch bewusst von Natur distanziert, als Hörender ihr verfallen bleibt.“<sup><a name="sdfootnote36anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote36sym"><sup>36</sup></a></sup> Die Geschichte ist bekannt. Odysseus befielt seine Fesselung, während die ihm untergebene Mannschaft mit Wachs in den Ohren sicher vor den Gesängen der Sirenen aus der gefährlichen Situation rudert. Die Macht seiner Position als Kommandant der Arbeit erlaubt es Odysseus, den Gesängen zu lauschen. Die verführerische Gewalt der Natur treibt ihn in die Nähe des Wahnsinns, nur die Fesseln retten ihn. Anders die Mannschaft selbst, die sich taub in Arbeit betätigen und damit der Verführung der Natur entfliehen. Herrschaft und Arbeit, die sich beide auf Unterwerfung und Entfremdung reimen, sind in diesem Verständnis das Ticket, um aus der vermeintlich fatalen Umklammerung der Natur zu entkommen. So wie bei Hegel der Weltgeist das Subjekt der Geschichte war und im Histomat die Produktivkräfte, so lassen uns Adorno/Horkheimer dank unserer Naturverfallenheit dramatisch durch die Geschichte stürzen, in der die höchst unwahrscheinliche Befreiung ähnlich wie bei Kubrick nur als ein göttliches Ereignis gedacht werden kann. In diesem negativen geschichtsteleologischen Konstrukt<sup><a name="sdfootnote37anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote37sym"><sup>37</sup></a></sup> wird also das Scheitern der Aufklärung in der Naturverfallenheit gesucht und nicht in der Aufklärung selbst. So scheint es letztlich wieder die Natur zu sein, die Aufklärung in Herrschaft umschlagen lässt. Demnach läge es nicht an der Aufklärung, die wieder zu emanzipatorischen Ehren käme, dass ihr Projekt nicht gelang. Aufklärung wäre also deshalb gescheitert, weil sie angeblich nie zu sich kam bzw. verwirklicht wurde.</p> <h4>Ideal gegen Wirklichkeit – der Modus des Fortschritts</h4> <p>Doch wie jede nährt sich auch die negative Geschichtsteleologie am Gedanken der Verwirklichung, wie ihn die Ideale der Aufklärung seit je her einforderten. Ihnen auf dem Leim gegangen zu sein, ist das traurige Verdienst selbst der kritischsten Geister. Eine Passage aus der <em>Negativen Dialektik</em> offenbart das ganze Dilemma Adornos und damit seines Pessimismus: „Soll die Menschheit des Zwangs sich entledigen, der in Gestalt von Identifikation real ihr angetan wird, so muss sie zugleich die Identität mit ihrem Begriff erlangen. Daran haben alle relevanten Kategorien teil. Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität. Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht. Denn der Äquivalententausch bestand von alters her gerade darin, dass in seinem Namen Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde. Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, dass das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus. Das rückt nahe genug an Hegel.“<sup><a name="sdfootnote38anc" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote38sym"><sup>38</sup></a></sup> Wahrlich, näher an Hegel kann Adorno nicht mehr rücken. Wollte Adorno andernorts noch Begriff und Gesellschaft in dem Wissen versöhnen, dass sie nicht identisch sind, wird hier das Gegenteil proklamiert. In einer theoretisch unhaltbaren Darstellung bezieht sich Adorno dabei auf die historische Notwendigkeit des Tauschaktes als zivilisatorischen Schritt, ohne den ein „Rückfall in altes Unrecht“ erfolgen würde. Die Begründung offenbart die ganze Ontologie der <em>Negativen Dialektik</em>. Seit „alters her“ soll der „Äquivalententausch“ darin bestanden haben, dass der „Mehrwert“ (!) der „Arbeit“ (!) unrechtmäßig angeeignet wurde. An dieser Aussage ist so gut wie alles falsch. Zum einen ist der Tauschakt nichts anderes als Äquivalententausch. So kann der Tauschakt nicht hinter sich selbst zurückfallen. Dies ginge nur, wenn Tauschakt und Äquivalententausch nicht unterschiedliche Ausdrücke ein und derselben Sache wären. Das nimmt Adorno aber offenbar an, wenn er von „Rückfall ins alte Unrecht“ spricht und den Äquivalententausch meint, welcher gerade darin bestünde, dass der Mehrwert der Arbeit entwendet werde. Mal abgesehen von der völlig unzulässigen Ontologisierung von Mehrwert, Arbeit und Äquivalententausch ist die Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital kein logischer Widerspruch zum Äquivalententausch respektive Tauschakt. Gleiches wird mit Gleichem vergolten, wenn der Besitzer der Ware Arbeitskraft diese zur Nutzung an ein Kapital verkauft. Der Wert der Ware Arbeitskraft ist ihr Tauschwert und der ergibt sich aus dem Wert des Warenkorbes, den die Ware Arbeitskraft benötigt, um zur weiteren Arbeitsverausgabung antreten zu können. Ist der Verkauf der Ware Arbeitskraft erfolgt, ist deren Besitzer gleich mehrfach aus dem Rennen: Zum einen ist er für die Länge des Arbeitstages bzw. -vertrages nicht mehr Besitzer von Arbeitskraft; er hat sie ja verkauft. Damit steht es ihm aber auch nicht mehr zu, über die Verwendung seiner Arbeitskraft zu bestimmen. Das Kapital verwendet nun die Arbeitskraft, konsumiert sie zum Zwecke der Wert-Vermehrung.<br />Das Vorenthalten des Mehrwerts, das Adorno hier in klassisch arbeiterbewegungsmarxistischer Manier skandalisiert, steht also keineswegs im Widerspruch zum Tauschakt. Vielmehr entspringt es seiner Logik. Wäre dem nicht so, dürfte sich zum Beispiel der Bier-Verkäufer, der sich mit seiner Ware zu sehr identifiziert, darüber empören, dass wir aus Laune sein Bier einfach wegkippen. Das steht ihm aber nach Logik des Tauschaktes nicht zu. Was ihn als Verkäufer allein zu interessieren hat, ist der Tauschwert seiner Ware; der Gebrauchswert und dessen Nutzung obliegt einzig und allein dem Käufer. Das Missverständnis über die Gerechtigkeit des Tauschaktes führt Adorno unweigerlich dazu, diesen als ‚irgendwie immer noch nicht ganz realisiert‘ zu sehen, obwohl er richtig bemerkt, dass die ganze Welt diesem Prinzip unterworfen ist. So macht Adorno als emanzipatorischen Fluchtpunkt der Geschichte gerade nicht die Kritik, sondern die Verwirklichung des Tauschaktes und mit ihm der in ihn hausenden Freiheit und Gleichheit aus. Der Marxsche Satz, dass Freiheit und Gleichheit nur die <em>ideellen</em> Ausdrücke der auf dem Tauschwert beruhenden Produktionsweise sind, verkehrt Adorno dahingehend, dass Freiheit und Gleichheit nur <em>ideologische</em> Ausdrücke im Sinne eines Betruges und Vorenthaltens sind. Weil Adorno die ideellen Ausdrücke für ideologische nimmt, geraten sie ihm zu Idealen. Doch die heutige Welt ist voll mit diesen Idealen. Deren Geschichte ist an ihr destruktives Ende gelangt, die der Menschen könnte dahinter beginnen.</p> <p><a name="sdfootnote1sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote1anc"> 1</a> Friedrich Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1892), MEW Bd. 22, S. 287-311.<br /><a name="sdfootnote2sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote2anc"> 2</a> Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, S. 8ff.<br /><a name="sdfootnote3sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote3anc"> 3</a> Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 462<br /><a name="sdfootnote4sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote4anc"> 4</a> Karl Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, MEW Bd. 19, S. 242/243.<br /><a name="sdfootnote5sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote5anc"> 5</a> An der Kategorie des Eigentums skandalisierte der Arbeiterbewegungsmarxismus immer nur die unmittelbare Verfügungsgewalt und nicht die Rechtsform als solche. Damit wird nicht nur der Kern des Problems verfehlt, sondern es wird auch unmöglich, die Eigentumsfrage auf der Höhe der Zeit kritisieren zu können. Zu diesem Problem sei auf den Aufsatz von Peter Klein, Moderne Demokratie und alte Arbeiterbewegung. Teil 1, Marxistische Kritik 3 (1987), oder auf http://www.giga.or.at/others/krisis/p-klein_moderne-demokratie-teil-1_mk3-1987.html verwiesen.<br /><a name="sdfootnote6sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote6anc"> 6</a> Karl Marx, Die britische Herrschaft in Indien, MEW Bd. 9, S. 132-133. Dieser Text avancierte zur Lieblingslektüre der Antideutschen nach dem 3. Golfkrieg. In falscher Analogisierung unterschiedlicher historischer Prozesse wurden die Marxschen Ausführungen als Beleg für die zwar schmerzhaften, aber angeblich notwendigen Bombardierungen im Irak angeführt. Analog ist natürlich das Argumentationsmuster insofern, als dem Kapital die historische Mission obliegt, die Drecksarbeit der Geschichte als Bedingung einer kommunistischen Emanzipation zu erledigen, ohne die die Überwindung der vormodernen Barbarei angeblich nicht denkbar sei.<br /><a name="sdfootnote7sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote7anc"> 7</a> Selbstverständlich unterlag die indische Agrargesellschaft anderen fetischisierten Herrschaftsverhältnissen, die u.a. im Kastenwesen und Witwenverbrennungen ihren Ausdruck fanden. Nebenbei bemerkt sind aber letztere kein genuines Produkt der Dorfgemeinschaften selbst, sondern fanden in den Adelskreisen Verbreitung. Auch ist diese „Sitte“ nicht einfach auf die Religionen zurückzuführen, denn sie wurde schon früh von Indern und Muslimen getadelt. Siehe: Friedrich Wilhelm, Staat und Gesellschaft, in: Heinrich Gerhard Franz (Hrsg): Das alte Indien, S. 160.<br /><a name="sdfootnote8sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote8anc"> 8</a> Marx bemerkt selbst, dass „das von den Briten über Hindustan gebrachte Elend wesentlich anders geartet und unendlich qualvoller ist als alles, was Hindustan vorher zu erdulden hatte.“, in: Karl Marx, Die britische Herrschaft in Indien, MEW Bd. 9, S. 128.<br /><a name="sdfootnote9sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote9anc"> 9</a> Hanna Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. S. 322 f., zit. nach Josef Hierlmeier, Internationalismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus, Schmetterling-Verlag, 2002, S. 138<br /><a name="sdfootnote10sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote10anc">10</a> Karl Marx, Das Kapital, vgl. MEW Bd. 23, S. 745.<br /><a name="sdfootnote11sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote11anc">11</a> Robert Kurz, Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel, 1988, S. 23. Die hier zitierten älteren wertkritischen Positionen geben keineswegs den heutigen Stand der Theorieentwicklung der Wertkritik an. Deren Weiterentwicklung ist aber diesbezüglich bisher nur ansatzweise dargelegt worden. Generell kann die Wertkritik nicht als Orthodoxie gelesen werden, sondern muss primär als Prozess verstanden werden. Viele der Kategorien, die in früheren Schriften noch positiv vorausgesetzt waren, sind im Zuge der Radikalisierung der Kritik selbst Gegenstand der Kritik geworden (Arbeit, Subjekt usw.). Dabei handelt sich nicht um Antinomien, sondern um den normalen Betrieb eines Theoriebildungsprozesses, der vermeintlich ontologische Kategorien zu historisieren sucht. Die Kritik von Arbeit, Subjekt, Abspaltung, Aufklärung usw. ist nicht durch einen Akt der Entscheidung gesetzt oder fällt gar vom Himmel, sondern muss theoretisch vermittelt und entfaltet werden.<br /><a name="sdfootnote12sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote12anc">12</a> Ebenda, S. 25.<br /><a name="sdfootnote13sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote13anc">13</a> Franz Schandl, Geschichte als Fortschritt, Weg und Ziel 1996 Nr. 4, 1996, S. 15.<br /><a name="sdfootnote14sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote14anc">14</a> Ernst Lohoff, Determinismus und Emanzipation, krisis 18 (1996), S. 56.<br /><a name="sdfootnote15sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote15anc">15</a> Dieses Entwicklungsmodell entspricht doch eher der vulgär-bürgerlichen Geschichtsmärchenstunde einer sich friedlich ausbreitenden Markt- und Geldwirtschaft gegen die Widerstände von weltlichem Adel und religiösem Aberglauben. In Jostein Gaarders ‚Sophies Welt‘ findet sich ein populäres Beispiel dieses Geschichtsverständnisses, in dem sich nicht nur der allgemeine gesunde Menschenverstand wiederfinden dürfte, sondern auch und gerade seine linke Version.<br /><a name="sdfootnote16sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote16anc">16</a> Karl Marx, Das Kapital, MEW. Bd. 23, S. 743.<br /><a name="sdfootnote17sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote17anc">17</a> Ebenda, S. 744-745.<br /><a name="sdfootnote18sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote18anc">18</a> Ebenda, S. 745.<br /><a name="sdfootnote19sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote19anc">19</a> Ebenda.<br /><a name="sdfootnote20sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote20anc">20</a> Was sich das warenförmige Alltagsbewusstsein kaum vorstellen kann, hat schon längst Eingang in die Lexika gefunden: „War die gewerbliche Warenproduktion in den Städten konzentriert, zünftisch organisiert und ausschließlich auf Bedarfsdeckung für die städtische Kommune, das Umland und den adligen Hof ausgerichtet, versorgte sich das Land weitgehend selbst durch eine familienbetriebliche Landwirtschaft.“, Fischer Weltgeschichte. Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550-1648, S. 94.<br /><a name="sdfootnote21sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote21anc">21</a> Vgl. Karl-Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Westdeutscher Verlag, 1989, S. 31ff.<br /><a name="sdfootnote22sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote22anc">22</a> Vgl. Robert Kurz, Der Knall der Moderne, online: http://www.exit-online.org/html/link.php?tab=autoren&kat=Robert%20Kurz&ktext=Der%20Knall%20der%20Moderne<br /><a name="sdfootnote23sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote23anc">23</a> Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 201ff.<br /><a name="sdfootnote24sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote24anc">24</a> Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 860 (vgl. Hegel Werke Bd. 10, S. 347).<br /><a name="sdfootnote25sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote25anc">25</a> Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 86.<br /><a name="sdfootnote26sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote26anc">26</a> Ebenda.<br /><a name="sdfootnote27sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote27anc">27</a> Ernst Lohoff, Brief an Christian Höner, August 2002.<br /><a name="sdfootnote28sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote28anc">28</a> Georg Lukács, Der Funktionswechsel des Historischen Materialismus, in: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Reprint der Erstausgabe von 1923 bei Red Star Press, London, 2000, S. 244.<br /><a name="sdfootnote29sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote29anc">29</a> Ernst Lohoff, Brief an Christian Höner, August 2002.<br /><a name="sdfootnote30sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote30anc">30</a> Moishe Postone, Dialektik und Proletariat, 1976; http://www.krisis.org/1976/dialektik-und-proletariat<br /><a name="sdfootnote31sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote31anc">31</a> Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften 3, S. 141.<br /><a name="sdfootnote32sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote32anc">32</a> Moishe Postone kritisiert den auf dieser Annahme beruhenden Pessimismus der kritischen Theorie ausführlich in: Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, ça ira -Verlag 2003, S. 141ff.<br /><a name="sdfootnote33sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote33anc">33</a> Das hier Skizzierte basiert auf dem Wertabspaltungstheorem; in: Roswitha Scholz, Der Wert ist Mann, krisis 12, 1992 u. Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus. Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne, Horlemann, Bad Honnef, 1999.<br /><a name="sdfootnote34sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote34anc">34</a> Zweite Natur meint, dass das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, ihr gesellschaftliches Verhalten ihnen als etwas Äußerliches, Fremdes und Objektives gegenübertritt. Dies ist Schein, aber als solcher ist er real.<br /><a name="sdfootnote35sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote35anc">35</a> Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp, S. 314.<br /><a name="sdfootnote36sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote36anc">36</a> Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften 3, S. 77.<br /><a name="sdfootnote37sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote37anc">37</a> Die negativen geschichtsteleologischen Momente der Dialektik der Aufklärung sind denn durchaus in Richtung einer häufig bemühten antideutschen Argumentationsfigur interpretierbar: Die negative Aufhebung des Kapitals auf seinen eigenen Grundlagen, die im deutschen Faschismus und insbesondere in Auschwitz stattgefunden haben soll. Dieses Konstrukt ist unhaltbar. Arbeit, Ware, Wert, Kapital usw. haben nie aufgehört zu existieren, geschweige denn, dass sie sich in eine funktionierende Negativität hätten auflösen bzw. aufheben können. In Auschwitz wurde eben nicht der Wert als solcher vernichtet, sondern die mit ihm identifizierten Juden.<br /><a name="sdfootnote38sym" href="http://www.krisis.org/2004/zur-kritik-von-dialektik-geschichtsteleologie-und-fortschrittsglaube#sdfootnote38anc">38</a> Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp, S. 150</p> </div>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-30116722033217195852009-08-15T09:32:00.000+02:002009-08-15T09:33:04.948+02:00Über “breimäulige Faselhänse der Vulgärökonomie”<h2>Über “breimäulige Faselhänse der Vulgärökonomie” </h2> <h3>Mosaiksteine zu einer Kritik der subjektiven Wertlehre <a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a1" name="1"><sup>(1)</sup></a></h3> <p>erschienen in: Streifzüge 33/2005</p> <p><em>von Christian Höner</em> <span id="more-360"></span></p> <p><em>Gegen die Wertkritik wird ab und an geltend gemacht, sie würde den wissenschaftlichen Standards nicht entsprechen, weil sie die theoretischen Annahmen der längst obsoleten Klassik der Nationalökonomie teilen würde. Auch wenn diese Argumentation falsch ist, bleibt sie lästig, weil beharrlich wiederholt. Um den allzufesten Boden dieser wissenschaftlichen Seriösität etwas zu lockern, hier ein paar Grabenstiche. </em></p> <h4>Theoriegeschichtlicher Ausflug</h4> <p>Die klassische Nationalökonomie mit ihren wichtigsten Vertretern, Adam Smith und David Ricardo, begründete die Arbeitswertlehre, nach der der Wert einer Ware durch die Arbeit gebildet wird, die zu deren Produktion aufgewendet werden muss. Weil sich Arbeit in der Ware vergegenständlicht, würde sie objektiv deren Wert bilden. Über 100 Jahre lang dominierte die Klassik das wissenschaftliche Selbstverständnis – nicht nur in England.</p> <p>Wegen theorieimmanenter Inkonsistenzen, aber auch wegen ihrer Offenheit für eine theoretische Fundierung von Forderungen des sich formierenden Industrieproletariats nach einer gerechteren Verteilung des durch Arbeit erwirtschafteten Werts (Linksricardianer), keimte auf Seiten der bürgerlichen Funktionseliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Interesse an einer alternativen Theoriekonzeption auf. Dieser diskurspolitische Kontext war sicher ausschlaggebend für den Siegeszug der so genannten Neoklassik. Der akute Bedarf eines Paradigmenwechsels innerhalb der bürgerlichen Nationalökonomie fand seinen theoriegeschichtlichen Ausdruck – oder um es neoklassisch auszudrücken: Die Nachfrage bestimmte das Angebot. “Zu Beginn der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelten William Stanley, Carl Menger und Léon Walras nahezu gleichzeitig, aber völlig unabhängig voneinander Werttheorien, die nicht auf der zur Herstellung eines Produktes notwendigen Arbeit, sondern auf dem Nutzen des Produkts für den Konsumenten beruhten. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a2" name="2"> (2)</a> Die affirmative theoretische Fundierung der Klassik hatte ihre Schuldigkeit getan. Die Beschäftigung mit der Sphäre der Produktion wurde zugunsten der nicht minder affirmativen Beschäftigung mit der Zirkulationssphäre aufgegeben.</p> <p>Während die Klassik noch davon ausging, dass der Wert einer Ware durch die in ihr verausgabte Arbeit objektiv als deren natürliche innere Substanz bestimmt wird, bezog nun die subjektive Wertlehre der Neoklassik eine inverse Position: Der Wert entspringe dem subjektiven Nutzen, der einer Ware auf dem Markt beigemessen, also subjektiv von außen an die Ware herangetragen werde.</p> <p>Die auf den Grundannahmen der subjektiven Wertlehre gründende Neoklassik, angereichert mit Elementen der Klassik, schwang sich zur dominierenden ökonomischen Disziplin im Wissenschaftsbetrieb auf und thront dort seit nunmehr über 100 Jahren. Heute entlockt die Arbeitswertlehre den Apologeten der subjektiven Wertlehre nur noch ein mitleidiges Lächeln, mit dem man nicht nur Adam Smith und David Ricardo, sondern auch Marx beerdigt zu haben glaubt.</p> <h4>Kein Aufguss, nirgends</h4> <p>Marx liefert mit der Kritik der politischen Ökonomie keinen erneuten Aufguss der Arbeitswertlehre, sondern kritisiert sie grundlegend bereits auf der Ebene der Bestimmung des Werts. Marx dechiffriert die Wert-Eigenschaft der Ware als Quasi-Objektivität, die keinerlei natürliches Substrat enthält. Dementsprechend belustigt zeigt sich Marx gegenüber den ökonomischen Entdeckern der “chemischen Substanz” des Werts: “Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a3" name="3"> (3)</a> Er wirft der bürgerlichen Nationalökonomie vor, sie habe nie gefragt, warum überhaupt Produkte die “Eigenschaft” erhalten, Wert darzustellen.</p> <p>So sehr sich Marx von klassischen Vorstellungen abgrenzt, die den Wert als natürliches Substrat zu fassen suchen, so wenig teilt er den neoklassischen Relationismus der subjektiven Wertlehre. Die Kategorie der Substanz wird für ihn nicht einfach hinfällig. Marx bezieht gegenüber objektiver und subjektiver Wertlehre gewissermaßen eine Metaposition, die beide Seiten als ideologische Ausdrücke einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit kenntlich macht. Diese gründen in einem unbewussten und deshalb verborgenen gesellschaftlichen Produktions- und Vermittlungsverhältnis.</p> <p>Marx hält gegenüber den (von ihm als Vulgärökonomen beschimpften) theoretischen Vorgängern der subjektiven Wertlehre an der Scheidung von Wesen und Erscheinung fest, indem er den unter der empirischen Oberfläche verborgenen, inneren Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft offenbaren will: “Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im Übrigen sich aber darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a4" name="4"> (4)</a></p> <p>Der Vorwurf, die subjektive Wertlehre würde unwissenschaftlich argumentieren, weil sie nur den empirischen Phänomenen verpflichtet sei, ist allerdings nicht ganz zutreffend. Als Carl Menger seinerzeit die subjektive Wertlehre begründen wollte, stieß er in Deutschland auf starke Widerstände seitens der akademischen Vertreter, die der dominierenden Schule des Historizismus anhingen, “welcher theoretischen Forschungen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft nur geringes Interesse entgegenbrachte. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a5" name="5"> (5)</a> Menger klagt: “Schon eine streng systematische Darstellung, welche in den theoretischen Wissenschaften, wie selbstverständlich, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet, genügte, um Misstrauen der ernsteren Vertreter, den Hohn der Fanatiker des Historismus zu erregen. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a6" name="6"> (6)</a> Er hält dagegen, “dass die Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens sich strenge nach Gesetzen regeln”. <a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a7" name="7"> (7)</a> Unfreiwillig plaudert Menger hier etwas über den objektiven Charakter der subjektiven Relationen aus; mehr dazu jedoch weiter unten.</p> <h4>Der okkulte Charakter der Arbeit</h4> <p>Marx zeigt, dass sich an der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen eine tieferliegende Logik gebrochen widerspiegelt, die in einer historisch-spezifischen Praxis gründet: der gesellschaftlichen Vermittlung durch “Arbeit”. Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Formationen, in denen produktive Tätigkeiten in eine Vielzahl von Momenten menschlicher Lebensäußerungen eingebunden sind, ist das zentrale (und auf diese Zentralität reduzierende) Charakteristikum der produktiven Tätigkeiten in der kapitalistischen Warengesellschaft ihre den gesellschaftlichen Zusammenhang vermittelnde Funktion. Als “Arbeit” erhalten produktive Tätigkeiten eine gesellschaftssynthetisierende Funktion. So nimmt eine konkrete, besondere Tätigkeit die verrückte Form an, gleichersam abstrakt-allgemeine gesellschaftliche Vermittlung darzustellen. Die “Arbeit” hat den okkulten Charakter, Konkretes und Allgemeines in einer abstrakten Form zu vereinen. Auch wenn die Menschen hier und da ahnen, dass sie sich gesellschaftlich durch “Arbeit” vermitteln, <a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a8" name="8"> (8)</a> so wissen sie dennoch nicht, was sie da tun. Sie wissen nicht, dass sie ihre gesellschaftliche Vermittlung aus den Händen geben, wenn sie diese in deren “Hände legen” bzw. in die “Produkte der menschlichen Hand” (Marx). Weil sich die Menschen nicht in einem direkten gesellschaftlichen Kommunikationsprozess vermitteln, sondern indirekt und unbewusst durch “Arbeit”, nimmt die gesellschaftliche Vermittlung die Gestalt einer produktiven Tätigkeit an und “beseelt” den Warenkörper, verleiht ihm die “Eigenschaft”, Wert darzustellen. Diese Wert-”Eigenschaft” erscheint als naturgegebene Objektivität, was von der Arbeitswertlehre positivistisch als Theorie reproduziert wird.</p> <p>Marx geht mit seinem Wertbegriff einer unbewussten gesellschaftlichen Vermittlungsform über die objektive als auch die subjektive Wertlehre hinaus, indem er ihre gemeinsame Bezugsebene erhellt und kritisiert: den Subjekt-Objekt-Dualismus.</p> <p>Der Wert ist nicht objektiv, weil er durch die unbewusste, gesellschaftliche Vermittlungsform konstituiert wird oder anders ausgedrückt: Er ist gesellschaftlich gemacht, nur eben in einer unbewussten Form. Damit ist der Wert aber auch nicht subjektiv, denn diese unbewusste Form gesellschaftlicher Vermittlung tritt den Menschen als solche nicht entgegen, sondern in verwandelter, sachlicher bzw. objektivierter Gestalt der Wert-”Eigenschaft” einer Ware. Damit erlangt der Wert den Status einer Quasi-Objektivität, die den Menschen als eine naturgesetzliche Gesellschaftlichkeit entgegentritt, der die Menschen unterworfen sind, solange sie sich in dieser Form gesellschaftlich aufeinander beziehen.</p> <h4>Im Käfig der Ontologie</h4> <p>Aber auch die subjektive Wertlehre objektiviert gewissermaßen den Wert, indem sie das historische Produkt einer abstrakten Individualität als überhistorische Faktizität unterstellt. So bestimmt Carl Menger den Wert als “die Bedeutung, welche konkrete Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, dass wir in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu sein uns bewusst sind. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a9" name="9"> (9)</a> Ähnliches formuliert auch Böhm-Bawerk in seinem Werk Positive Theorie des Kapitals: “Wert ist die Bedeutung, welche ein Gut oder ein Güterkomplex für die Wohlfahrtszwecke eines Subjektes besitzt. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a10" name="10"> (10)</a> Diese Bestimmung ist entweder so allgemein und unscharf, dass sie auf alle gesellschaftlichen Formationen und alle menschlichen Lebensäußerungen angewandt werden kann, so dass sie keinen analytischen Wert besitzt. Oder wir fassen diese Bestimmung enger als die isolierte Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt, dann ist Michael Heinrich zuzustimmen, wenn er Mengers Wertdefinition wie folgt kritisch kommentiert: “Insofern der Wert aus der Beziehung des Individuums zum Objekt seiner Befriedigung entspringt, ist er nicht nur unabhängig vom Austausch, sondern überhaupt von jeder Gesellschaft. In seiner Philosophie des Geldes bezeichnet ihn (den Wert, C. H. ) Simmel daher ganz konsequent als , Urphänomen’, von dem man genausowenig wie vom Sein zu sagen weiß, was es ist. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a11" name="11"> (11)</a></p> <p>Indem also die subjektive Wertlehre den Wert in den Menschen hineinverlagert, diesen Menschen als Subjekt, als vereinzelten Einzelnen fasst und enthistorisiert, verwandelt sich der subjektiv verstandene Wert in eine objektive Tatsache, die der menschlichen Natur zu entspringen scheint. Ist die menschliche Natur erst einmal fixiert, ontologisiert es sich eben leichter. So auch beim Tausch:</p> <p>Während Adam Smith die Vernunft und das Sprachvermögen als wahrscheinliche Ursache des Tausches angibt und damit das Tauschen zu einem steten Hang des Menschseins erhebt, operationalisiert und flexibilisiert Menger das Tauschbedürfnis “als das Bestreben (der Menschen), ihre Bedürfnisse möglichst vollständig zu befriedigen”. Es bleibt eine Differenzierung im Rahmen des ontologischen Käfigs.</p> <p>Die subjektive Wertlehre suggeriert mit ihrem Subjekt-Attribut zwar, den Menschen als mündigen Akteur einzusetzen, indem sie proklamiert, der Mensch als Subjekt würde den Wert in Anbindung an seine Bedürfnislage bestimmen. Da die subjektive Wertlehre aber den Menschen schon immer in der Form Subjekt denkt, also in der Form eines aus seinen gesellschaftlichen Bezügen herausgelösten, autonomen Souveräns mit aus- und einschließendem Ich-Bezug, und somit die spezifische historische Form der abstrakten Individualität zu einem ontologischen Axiom ihres Theoriegebäudes erklärt, verankert sie den Subjektbegriff im Menschsein schlechthin und objektiviert ihrerseits den subjektiven Wert.</p> <h4>Ungesunde Kaufzurückhaltung</h4> <p>Gegenüber der Arbeitswertlehre und der so missverstandenen Kritik der politischen Ökonomie hat sich die subjektive Wertlehre im Glanz eines wissenschaftlichen Pragmatismus gespreizt, weil ihre mathematischen Modelle für den kapitalistischen “Hausbedarf” Anwendungsmöglichkeiten boten, die die Arbeitswertlehre nicht mehr zu leisten im Stande war. Dabei beruhen doch Arbeitswertlehre wie auch subjektive Wertlehre auf der irrigen Annahme, die verrückte gesellschaftliche Form eines Waren produzierenden Kapitalismus sei wissenschaftlich-rational auflösbar und in mathematischen Modellen darstellbar. <a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a12" name="12"> (12)</a> Zwar korrespondiert die Quasi-Objektivierung der gesellschaftlichen, so genannten “zweiten Natur” im Kapitalismus mit der theoretischen Annahme, Gesetzmäßigkeiten würden hinter den gesellschaftlichen Strukturen ablaufen. Andererseits brechen sich diese “Naturgesetze” der Gesellschaft zwangsläufig am Nicht-Aufgehen der gesellschaftlichen Allgemeinheit in der totalitären Form dieser Quasi-Objektivierungen.</p> <p>Zum anderen verflüchtigt sich das pragmatische Pathos der subjektiven Wertlehre und ihrer Vertreter im Kontext von Krisenprozessen, und der zynische Kern der neoklassischen Ideologie tritt offen zu Tage. Verliert nämlich das Vermittlungsmedium “Arbeit” seine repressiv-integrative Kraft, können sich zunehmend weniger Menschen gesellschaftlich (re)produzieren und vermitteln. D. h. , weil die Befriedigung ihrer Bedürfnisse schon immer gesellschaftlicher Vermittlung bedarf, sie aber von dieser Vermittlung abgeschnitten sind, nützt ihr Bewusstsein über die Bedeutung, welche konkrete Güter oder Güterquantitäten für sie dadurch erlangen, dass sie in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig sind – wie es Carl Menger so schön definierte -, gar nichts. Eine arbeitslose Mutter hat sicher eine Reihe von Bedürfnissen, deren Bedeutung ihr durchaus bewusst sein dürfte. Ihre Bedürfnisse dürften aber trotzdem als subjektiver Wert nicht die Form eines Geldscheines annehmen. Das hier angesprochene und von der subjektiven Wertlehre ausgeblendete Problem ist die Notwendigkeit, dass der Wert als realer Schein “produziert” und “reproduziert” werden muss. Wie wir bereits festgestellt haben, ist die primäre Ebene der “Produktion” des Werts die des historisch-spezifischen Produktions- und Vermittlungsverhältnisses der Warengesellschaft. Eine nähere Bestimmung führt uns dorthin, wo die abstrakt-allgemeine Vermittlung unmittelbar mit sinnlich-konkreten Tätigkeiten zusammenfällt: in der Sphäre der Produktion. Durch “Arbeit” werden nicht nur konkrete Warenkörper hergestellt (diese stellen vielmehr ein Nebenprodukt dar), sondern es wird primär die gesamtgesellschaftliche Vermittlung produziert und reproduziert. In der Arbeit erfolgt die In-Wert-Setzung des Menschen, sprich: die reduzierende Verwandlung seiner Lebensäußerungen auf die Verausgabung von Arbeitsquanten. In der und durch die Produktion verwandelt sich der Mensch in einen Arbeitskraftbehälter, dessen Verausgabung nicht nur neuen Wert quasi-objektiv “produziert”, sondern auch dessen eigenen Wert “reproduziert”. Erst auf der Basis dieser In-Wert-Setzung in der Sphäre der Produktion kann in der Sphäre der Zirkulation bzw. auf dem Markt eine Konsumentin erscheinen, die bereits freudig von der subjektiven Wertlehre in Empfang genommen wird ob ihrer vermeintlich subjektiven Wertschätzung einer bestimmten Ware gegenüber. Das Ausbleiben der KonsumentIn auf dem Markt in der Krise der Vernutzung der Ware Arbeitskraft kann dann nur noch zynisch als “Kaufzurückhaltung” oder neue Bedürfnisarmut interpretiert werden.</p> <p>Aber tun wir der Wissenschaft von der Subjektivität des Werts nicht unrecht. Solcherlei Probleme fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Theorie über die funktionierende Volkswirtschaft. Das aus einem anderen Sinnzusammenhang entlehnte Zitat von Marx erweist sich auch hier als zutreffend: “Dies Elementargesetz scheint den Herren von der Vulgärökonomie unbekannt, die, umgekehrte Archimedes, in der Bestimmung der Marktpreise der Arbeit durch Nachfrage und Zufuhr den Punkt gefunden zu haben glauben, nicht um die Welt aus den Angeln zu heben, sondern um sie stillzusetzen. “<a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#a13" name="13"> (13)</a></p> <hr />Anmerkungen <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#1" name="a1"> (1)</a> Die “breimäuligen Faselhänse der Vulgärökonomie” finden sich in: Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 22.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#2" name="a2"> (2)</a> Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1991, S. 57.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#3" name="a3"> (3)</a> Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 98.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#4" name="a4"> (4)</a> Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 95.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#5" name="a5"> (5)</a> Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1923, S. VII.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#6" name="a6"> (6)</a> Ebenda.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#7" name="a7"> (7)</a> Ebenda.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#8" name="a8"> (8)</a> Missverständlich an dieser Ahnung ist, dass man um die stoffliche Notwendigkeit der Arbeit für die Gesellschaft “weiß”. “Wer soll sonst die Brötchen backen”, ist eine oft geäußerte Abwehr gegen die Arbeitskritik. Dabei wird der wesentlich abstrakte Charakter der Arbeit verkannt. Nur ihm obliegt die gesellschaftliche Vermittlungsfunktion.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#9" name="a9"> (9)</a> Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1923, S. 103.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#10" name="a10"> (10)</a> Eugen von Böhm-Bawerk, Positive Theorie des Kapitals, Innsbruck 1889.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#11" name="a11"> (11)</a> Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt/M 1989 (1900), S. 27; Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1991, S. 61.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#12" name="a12"> (12)</a> Dass diese Modelle mittlerweile den selbst gesetzten mathematischen Standards nicht mehr entsprechen, verweist auf den maroden Zustand der Wirtschaftswissenschaften. Siehe dazu ausführlich: Claus-Peter Ortlieb, Markt-Märchen. Zur Kritik der neoklassischen akademischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle, in: EXIT!, Bad Honnef, 2004.</p> <p><a href="http://www.streifzuege.org/2005/ueber-breimaeulige-faselhaense-der-vulgaeroekonomie-1#13" name="a13"> (13)</a> Karl Marx, Das Kapital, MEW. 23, S. 323.</p>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-235110860497648185.post-45962841985796169972009-08-15T09:28:00.000+02:002009-08-15T09:31:01.543+02:00Was ist der Wert?<h2>Was ist der Wert? </h2> <h3>ÜBER DAS WESEN DES KAPITALISMUS – EINE EINFÜHRUNG</h3> <p>erschienen in: Streifzüge 30/2004</p> <p><em>von Christian Höner</em> <span id="more-315"></span></p> <p>Die ersten Werttheoretiker waren die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie: Adam Smith und David Ricardo. Sie gingen davon aus, dass die Arbeit, die benötigt wird, um ein Produkt herzustellen, den Wert einer Ware bildet. Die vergangene, verausgabte Arbeit liegt demnach gewissermaßen in der Ware und verleiht ihr so die Eigenschaft, Wert zu besitzen. Die Frage, warum <em>überhaupt </em>Produkte in den warenproduzierenden Gesellschaften eine Wert- Eigenschaft erhalten, konnten und wollten sie nicht beantworten. Das tat dann ein Kritiker des Waren produzierenden Systems namens Karl Marx. Auch bei ihm führt der Weg zum Wert über die Analyse der Ware. Was ist nun so Entscheidendes an der Ware zu entdecken?</p> <p>Gegenüber einem Produkt zeichnet sich eine Ware per Definition dadurch aus, dass sie gegen eine andere Ware getauscht werden kann. Die Ware, zum Beispiel ein Hammer, besitzt also nicht nur die Eigenschaft, dass er aus Holz und Eisen besteht und dass man mittels eben jenes Hammers Nägel in die Wand schlagen kann. Als Ware besitzt der Hammer <em>“die Eigenschaft” </em>tauschbar zu sein. Was ist damit gemeint?</p> <p>Um beim Beispiel zu bleiben: Ein Hammer soll gegen eine Flasche Bier getauscht werden. Nun sind Hammer und Bier zwei völlig verschiedene Dinge für völlig unterschiedliche Zwecke. Ihre Unterschiedlichkeit mag zwar für denjenigen, der Bier trinken oder einen Nagel in die Wand schlagen will, von Bedeutung sein. Für den Tausch als logische Operation ist ihre konkrete Nützlichkeit ungeeignet. Denn beim Tauschakt geht es ja bekanntermaßen um den Tausch von Gleichem oder Gleichwertigem. Wenn dem nicht so wäre, würde man bedenkenlos sein Auto gegen ein Stück Butter tauschen. Jedes Kind weiß, dass das Auto wertvoller ist. Offensichtlich ist es nicht die qualitative Eigenschaft der Ware (also ihre konkrete, sinnliche Natur), die den Tausch möglich macht. Bier, Hammer, Auto müssen also irgendetwas besitzen, das sie untereinander gleich und damit vergleichbar macht.</p> <p>Was ist nun das Gleiche an einem guten Bier und einem robusten Hammer? Beide existieren nur, weil Menschen Energie zu ihrer Herstellung verausgabt haben. Dabei geht es allerdings nicht um die konkreten Tätigkeiten, die die Herstellung von Bier und Hammer erfordern, denn als solche sind sie völlig verschieden. Gleich und vergleichbar werden sie nur, wenn von ihrer konkreten Natur abgesehen (abstrahiert) wird. Es geht dann nicht mehr um den konkreten Vorgang des Bierbrauens bzw. Hammerherstellens, sondern darum, dass überhaupt Energie verausgabt wird. Marx verwendet dafür auch den Begriff der abstrakten Arbeit. Abstrakte Arbeit – so Marx – vergegenständlicht sich in der Ware und bildet deren Wert. Um den Wert einer Ware betrachten zu können, muss also von der gesamten konkreten Erscheinung des Hammers abgesehen werden. Was man dann in den Händen hält, ist ein recht seltsames abstraktes Häufchen verausgabter menschlicher Energie.</p> <p>Die Ware besitzt also einen Doppelcharakter. Sie ist einerseits ein konkretes, sinnliches Ding. Andererseits ist sie ein abstraktes, rein quantitatives Wert-”Ding”.</p> <p>Marx nennt die konkret-sinnliche Gestalt der Ware den Gebrauchswert. Bei Marx ist der Gebrauchswert noch eine überhistorische Kategorie. Tatsächlich ist der Gebrauchswert dem Diktat des Werts gleich mehrfach unterworfen. Zum einen wird nur das hergestellt, was sich auch verwerten bzw. indirekt über die Verwertung realisieren lässt. Zum anderen beherrscht das Verwertungsdiktat den Produktionsprozess selber. Maschinerie wie Produkt sind unter dem Gesichtspunkt der Verwertung organisiert. Es ist der Produktion wie dem Produkt anzusehen, dass sie unter dem Diktat abstrakter betriebswirtschaftlicher Effektivität realisiert werden. Allgemeiner ausgedrückt: Der Gebrauchswert ist nur die Konkretion der Abstraktion des Werts. Der Gebrauchswert gibt nur in einem abstrakten Sinn Nützlichkeit an: <em>Nützlichkeit überhaupt. </em>Zum Beispiel ist auch eine Bombe ein sinnlich-konkretes Ding mit einer gewissen Nützlichkeit. Spätestens mit den Skandalen in der Lebensmittelindustrie dürfte klar sein, dass die Aussage von Marx, dass die Brötchen in der feudalen Gesellschaft genauso schmecken wie im Kapitalismus nicht aufrechtzuerhalten ist. Der Gebrauchswert ist nicht als überhistorische Konstante, sondern als der Ware zugehörig neu zu bestimmen.</p> <p>Wie aber ergibt sich nun die Größe des Werts? Dass die Zeit hierbei eine Rolle spielt, die zur Verausgabung menschlicher Energie an einer Ware notwendig ist, scheint einleuchtend. Nun gibt es da ein Problem: Der Hersteller eines Autos wird zum Beispiel nicht auf den Gedanken kommen langsamer zu arbeiten, um den Wert seines Fahrzeuges zu erhöhen – was übrigens auch nicht passieren würde. Er muss sich nämlich mit seiner Konkurrenz und deren wissenschaftlich-technischem Vermögen, Autos herzustellen, messen. Allgemein kann man also sagen, dass sich die Größe des Werts aus der Größe der abstrakten Arbeitszeit in Abhängigkeit von der durchschnittlichen gesellschaftlichen Produktivtät ergibt. Wir wissen dank Marx zwar jetzt, dass die abstrakte Arbeitszeit in Abhängigkeit von dem Standard der Produktivität die Größe des Werts festlegt. Wie kann man jedoch diese Größe genau ermitteln? Ganz einfach: gar nicht. Es gibt zwar Stechuhren und Arbeitsplätze, wo die Einhaltung der Zeitvorgaben überwacht wird. Aber es gibt einfach keine Messinstrumente, die die abstrakte Arbeitszeit oder gar den durchschnittlichen Standard der Produktivtät irgendwie messen könnten. Dass es trotzdem Preise an jeder Ware gibt, wie man sich im Supermarkt überzeugen kann, liegt daran, dass Wert und Preis nicht identisch sind. Der Wert – so könnte man sagen – ist die eiserne Richtschnur, um die herum der Preis zirkuliert.</p> <p>Wer legt fest, welche Ware welchen Wert hat? Die Antwort ist so einfach wie verwirrend: die Waren selber. Das Irrsinnige dieser Feststellung sticht geradezu ins Auge. Dinge haben per se keinen eigenen Willen und erst recht können sie keine Entscheidungen treffen. Und trotzdem verhält es sich gewissermaßen so. Warum aber? Indem die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer tagtäglichen Praxis ihre Produkte gegeneinander tauschen, setzen sie ihre Tätigkeiten einander gleich. Dieses Gleichsetzen verleiht den Produkten die gespenstische Eigenschaft, Wert zu besitzen. Gespenstisch ist diese Eigenschaft, weil es den Produkten von Natur aus nicht zusteht, Wert zu besitzen. Der Wert einer Ware, zum Beispiel eines Diamanten, ist auch durch eine atomare Analyse nicht zu ermitteln. Da sind nur Kohlenstoffatome. Wir haben es also mit einer Paradoxie zu tun: Der Wert ist da und auch wiederum nicht. Die Dinge besitzen nicht von Natur aus Wert, erst durch die Tauschpraxis der Menschen kommt der Wert in die Welt. Das Verhalten der Menschen wird so paradoxerweise zu einer “Eigenschaft” eines Dinges; es “fährt” in die Dinge hinein und “beseelt” die Warenkörper, die sich nun scheinbar zu anderen Waren “verhalten” können.</p> <h4>Warum der Wert ein Gespenst ist</h4> <p>Das soziale Verhältnis von Menschen verkehrt sich zu einem verdinglichten Verhältnis von Sachen. Dieses Verhältnis von Dingen kann natürlich nur ein <em>Schein</em>bares sein, aber es handelt sich um einen <em>realen </em>Schein, der sich erst verflüchtigt, wenn sich die Menschen nicht mehr in dieser spezifischen Art und Weise gesellschaftlich aufeinander beziehen. Marx nennt das Unvermögen, nicht anders als über die “Produkte der menschlichen Hand” gesellschaftlich aufeinander Bezug nehmen zu können, Warenfetischismus. Die mystisch-fetischistische Basis der aufgeklärten Warengesellschaft findet eine Analogie im Reich der Religionen. “Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand”, sagt Marx im 1. Band des Kapital. Ob Totem, Naturgötter, Gott oder die Ware: die gesellschaftliche Synthese erfolgt nicht in der Form eines unmittelbaren gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, sondern indirekt durch unbewusste, gemeinsame Bezugnahme auf etwas scheinbar “Äußerliches”, das scheinbar unabhängig vom bewussten Treiben der Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhang wie eine Matrix strukturiert. Diese Matrix erscheint nicht als durch die Menschen gemachtes Verhältnis, sondern als ein quasi-natürliches bzw. naturgesetzliches. Aber dieses Naturgesetzliche ist nichts weiter als die eigene gesellschaftliche <em>Form</em>, in welcher sich die Menschen in der Warengesellschaft aufeinander beziehen. Und so reicht es nicht, sich dieser unbewussten Form einfach bewusst zu werden. Vielmehr muss sich die Form der gesellschaftlichen Praxis der Menschen zueinander verändern, so dass die Vermittlungsprozesse zwischen Mensch-Mensch und Mensch-Natur in bewussten Kommunikationsprozessen vollzogen werden.</p> <h4>Warenproduktion: Von einem Randphänomen … </h4> <p>Auch wenn der Mainstream der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften davon ausgeht, dass zu tauschen in der Natur des Menschen liege, ist der Warentausch in den vormodernen Gesellschaften nicht <em>das</em>Vergesellschaftungsprinzip gewesen. Wenn überhaupt getauscht wurde, so handelte es sich um ein randständiges Phänomen. Die vormodernen Gesellschaften funktionierten als Subsistenzwirtschaften, und diese verfügten über verschiedenste Formen der Verteilung von Produkten, zum Beispiel durch persönliche Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse. Es zeichnet erst die kapitalistische Gesellschaft aus, dass das Tauschen zum einzigen Prinzip des “Stoffwechselprozesses des Menschen mit der Natur” wird. Historisch betrachtet war der Tausch so lange ein randständiges Phänomen, wie die Menschen über eigene oder gemeinsame Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verfügten. Erst die gewaltvolle Trennung der Menschen von diesen Mitteln machte Kapitalismus und damit die Verallgemeinerung des Tauschprinzips möglich. Erst im Kapital vollendet sich die Logik des Tauschens. Um das zu verstehen, müssen wir uns nochmals dem Wert zuwenden. Die Wert-Eigenschaft der Dinge entsprang einem spezifischen unbewussten Verhältnis der Menschen. Ein soziales Verhältnis wurde zu einer Eigenschaft einer Sache. Diese Wert-Eigenschaft ist das Ergebnis einer realen Abstraktion als logische Bedingung des Tauschaktes. Um sinnlich verschiedene Dinge gleich und damit vergleichbar zu machen, muss gerade von ihrer Sinnlichkeit abgesehen werden. So verwandeln sich sinnliche Gegenstände in abstrakte Wert-Dinge, die nichts weiter darstellen als <em>Arbeitsprodukte überhaupt, </em>in denen menschliche <em>Energie überhaupt </em>verausgabt wurde. Der Wert ist also der gemeinsame Nenner der Waren -verausgabte, vergegenständlichte oder auch geronnene menschliche Energie -, über den sich die Waren aufeinander beziehen können.</p> <p>Der Wert – seinem abstrakten Wesen entsprechend – kann nun in verschiedenen Formen und Aggregatzuständen auf der sinnlichen Oberfläche der gesellschaftlichen Praxis <em>erscheinen</em>. Er kann u. a. in der Gestalt von Waren oder in der von Geld <em>erscheinen</em>. Im Geld <em>erscheint </em>der Wert als praktischer Vermittler zwischen verschiedenen Waren. Ein Beispiel: Ein Bäcker stellt Brötchen her, um sie gegen Geld zu tauschen. Mittels jenes Geldes tauscht der Bäcker all die Dinge ein, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt. Hier <em>erscheint </em>das Geld als relativ harmloses und sinnvolles Instrument: Hergestellte <em>Waren </em>werden gegen <em>Geld </em>und dann wieder gegen <em>Waren </em>getauscht, die dann konsumiert werden sollen; Ware-Geld-Ware. Der Wert schlüpft gewissermaßen zuerst in das Kostüm einer Ware, dann in das des Geldes, um sich schließlich wieder in eine Ware zu verwandeln. Dieses vermeintlich idyllische Bild einfacher Warenproduzenten hat allerdings nichts mit Kapitalismus zu tun.</p> <h4>… zum Kapital</h4> <p>Was ist nun Kapital? Damit Kapital entsteht, ist es notwendig, die Bewegung Ware- Geld-Ware in ihre einzelnen Segmente zu zergliedern und neu zusammenzusetzen: Geld-Ware-mehr Geld. Diese Bewegung ist Kapital. Im Unterschied zu Ware-Geld- Ware, wo zumindest noch am Anfangs- und am Endpunkt die Ware steht und das Geld nur vermittelnd zwischen beide Waren tritt, hat sich der Wert in seiner Ausdrucksform Geld selber zum Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung des Kapitals gemacht, wobei die Bewegung Geld-Geld nur “Sinn” macht, wenn sich das Geld vermehrt. Der Wert ist zu seinem eigenen Ziel geworden, seine eigene sinnstiftende Instanz, er heckt sich selber als Selbstzweck. Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sinkt zu einem bloßen Mittel herab, zu einem notwendigen Übel. Die “Maschine” Kapital ist also ein selbstbezüglicher Automatismus oder wie Marx es nennt: das automatische Subjekt. Alle menschlichen Bedürfnisse und die damit verbundenen Interessen können sich nur noch verwirklichen, wenn sie innerhalb der Kapitalbewegung gewissermaßen als Kollateralschaden abfallen. Die Produktion der Waren ist zum notwendigen Übel geworden, um aus Geld mehr Geld zu machen. Da der Gesellschafts- und Naturbezug der Menschen in der Warengesellschaft nur im Rahmen der selbstzweckhaften Bewegung des Werts (Kapital) erfolgt, der Wert aber eben von diesem Bezug absieht, weil er nur sich selbst und seine Selbstvermehrung kennt, sinken die Menschen zu bloßen Exekutoren der Bewegung des Kapitals herab. Die Menschen werden zu Funktionsträgern bzw. zu Charaktermasken eines sie beherrschenden Automatismus, der nichts weiter ist als ihre eigene verrückte, unbewusste, gesellschaftliche Vermittlungsform.</p>Ch. Hönerhttp://www.blogger.com/profile/00550697679030460255noreply@blogger.com0